Harald V. Bergander

 

Die Ballade der Freunde
Lederbengel Tom & Handschellen Jig

 

 

 

                         

 

Gewidmet meiner lieben Sabine  ·  Ohne sie wäre dieses Buch nicht entstanden

          

         

                                    llama [spanisch] = die Flamme, die Leidenschaft

 

1

 

     „Was? Mitten in der Woche?“ Der Chefin war es nicht recht. Jig wollte an ei­nem Donnerstag frei haben.

     „Ich hole es am Sonntag nach. Montag früh ist die Arbeit fertig. So oder so.“

     „Jig, Sie wissen, daß Ihnen Urlaub erst nach einem halben Jahr zusteht!?“

     „Ich will keinen Urlaub, Señora. Nur einen Arbeits­tag tauschen. Die Materie ist neu für mich. Sonntags ist kein Kundenverkehr. Da habe ich viel mehr Ruhe zum Arbeiten.“

     Am Wochenende, malte Jig sich aus, hätte er in den Bergen null Ruhe vor zahllosen Familien, die mit Kind und Kegel überallhin ausschwärmten.

     Selma besaß den Zuschnitt einer Walküre und das markante Gesicht eines Filmstars der dreißiger Jahre. Mit Jig hatte sie sich auf Anhieb gut verstanden. Er schätzte ihre lässige Art. Sie schätzte seine norddeutsche Anständigkeit und sein kindliches Erstaunen über alles Unbekannte in dem für ihn unbegreiflich fremden Land. Natürlich bekam er frei.

 

     Mittwoch nahm er in Madrid-Atocha den letzten Zug nach Robledo. Aß mäßig und trank weniger Wein als gewöhnlich. Schlief in der Fonda nahe des Bahnhofs.

     Am nächsten Morgen nach dem Frühstück ging es in die Wälder. Bald begegnete ihm niemand mehr. Zeit, sich einzustimmen. Er zog die spanischen Handschellen mit dem ei­genwilligen Namen Llama aus der Hosentasche. Silbrig schimmerten und blitzten sie im Sonnenlicht. Erregt schnaufend drückte er die Bügel auf, nahm die Arme hinter den Rücken und legte sich die Fesseln an. Sie waren kleiner geformt als Toms Bundeswehr­mo­dell und umspannten die Handgelenke hauteng, als wären sie nach Maß angefertigt. Die zusammen­geketteten Hän­de über Po und Hüften schieben und über die Beine nach vorn zu bringen, hatte er vergeblich versucht. Ellbogen und Schultern protestierten dabei mit stechendem Schmerz. Aber sich zu befreien, auch mit den Händen hinten, dauerte nur Sekunden. Das hatte er wie ein Entfesselungskünstler trainiert. Je ein Schlüssel steckte dafür in den Gesäßtaschen seiner Levi’s Jeans.

     Wohlan, Freak, bergaufwärts! Vor der senkrecht stehenden Junisonne schützten ihn das langärmelige Hemd und ein Strohhut. Es war ein herrlicher Tag. Blendend weiße Haufenwolken winkten ihm einladend zu.

     Er konnte zwischen Pinien und Steineichen wählen, Bäumen mit rissiger Rinde. German Boy, im Ni­belun­genstil auf Ursprüngliches aus, wählt die Verwandte der deutschen Eiche. Plumpst hin. Löst die Handschellen. Schöpft Atem nach dem steilen Aufstieg. Geht das Vorhaben nochmals durch. Steht wieder auf. Mustert den Boden. Zwischen Gras und Kräutern keine Ameisen und keine in der Nähe. Nichts krabbelt den Baum hinauf.

     „Also los! Setz dich nie­der, Jiggy! Solange du es aus­hältst! Arme nach hinten! Um den dicken Stamm herum. Ist genügend Spielraum? Ja. Kommst du an die Schlösser ran? Locker. In jedem steckt der Schlüssel. Bist abgesichert. Nichts Schräges zu erwarten. Kannst gelassen die Patschen abliefern. Zuerst die linke Hand...“ Ratsch!

     „He, was zögerst du?“ fragte die andere Schelle. „Ist kein Mut übrig für die Rechte?“

     „Mut ja. Aber kann man euch trauen? Geht ihr erst heute abend wieder auf?“

     „Quatsch! Dem Schlüssel gehorchen wir aufs Wort. Gehört zu unseren Pflichten. So wie dich auf Nummer sicher einzusperren. Sobald Einsperren angesagt ist. Für welche Zeitspanne auch immer.“

     Ratsch...! Jig schloß die Augen. Was es doch jedes­mal für ein sonderbar brennendes Gefühl war, so unverrückbar dazusitzen! Schon als Kind hatte er es irgendwie gern gehabt. In süßsauer. „Mußt dich wehren!“ sagten die Kameraden. Wenn er es reglos zugelassen hatte, daß jemand ihn nach allen Regeln der Kunst an einen Baum band. „Ein waschechter Junge wehrt sich“, wurde er be­lehrt. „Läßt sich nicht fesseln. Schlägt um sich, daß die Fetzen fliegen. Bist jetzt vollkommen hilflos. Denk gründlich drüber nach! Hast satt Zeit dafür. Liegt nämlich ganz bei uns, ob du heute noch losgemacht wirst.“

     Hier in der Sierra de Ávila war er nicht hilflos und mußte nicht erst austüfteln, wie er wieder freikam. Die Sitzung konnte er be­enden, wann er wollte. „Nun streck auch die Beine lang aus, Jiggy!“ wisperten seine Wächter. „Entspann dich! Genieß es! Du darfst träumen.“

     „Okay“, willigte er ein. „Warum nicht am hellen Tag träumen, Jiggy? Nichts spricht dagegen, die Dinger noch enger zu stellen.“ Klick, klick. „Mann, ist das edel! Die Arme fast unbeweglich um den Baumstamm geschlungen. Fühlt sich super an. Wie in alten Zeiten mit Tom...“

 

2

 

     Im Alter von dreizehn Jahren hatte Jig einen Jungen aus seiner Klasse förmlich angebetet. Wie er war er ein Einzel­gänger und verabscheute lärmendes Tun in der Gruppe. Jigs mündliches Freundschaftsbegehren wurde wortlos mit spöttischem Lächeln beantwortet. Es wirkte wie die kalte Dusche der Ablehnung.

     Zwei Tage später bekamen nur die beiden für ein schwieriges Diktat die Note Eins. Tom schob Jig im Vorübergehen einen Zettel zu. „Falls du genügend Mumm hast, Elge, sei um drei am Hexenteich.“

     Verblüfft starrte Jig ihm nach. Mumm für was? Tom rempelte gerade einen anderen Jungen ruppig zur Seite. Nur weil er ihm im Weg stand. Mumm, um verprügelt zu werden?

     Der Hexenteich lag oberhalb der Stadt im Bergwald. Im Mittelalter hatte man dort Steine gebrochen. Dadurch war ein tiefer Teich entstanden. Zum Schwimmen nicht ohne Tücken. Schlingpflanzen lauerten im Wasser. Es hieß, ein nacktes Mädchen mit Fischschwanz lebe darin, klammere sich bevorzugt an Jungenfüße. Geschähe das, werde man in die Tiefe gezogen und müsse unweigerlich ertrinken. Im zwanzigsten Jahrhundert hatte noch niemand die Wassernymphe gesehen. Nicht einmal in Vollmondnächten. Wenn sie nach alter Überlieferung den Teich verließ, im Wald lustwandelte, nach Liebespaaren Ausschau hielt, die sie, auf ihrer Flöte spielend, in ihren feuchten Palast einlud.

     Tom wartete schon. Als sie sich die Hand gaben, verdrehte er Jig flugs den Arm, warf ihn zu Boden und nahm rittlings auf ihm Platz. „Kleiner, zweifellos hast du Mumm. Hast du auch davon gehört, was ich mit Gefangenen anstelle?“

     Jig nickte stumm. Ohne ein blau geschlagenes Auge kam keiner davon, der sich mit Tom anlegte. Ein blaues Auge konnte er verschmerzen, würde auf diese Weise seinen Klassenkameraden kundgetan, daß er furchtlos einen Stärkeren herausgefordert hatte.

     „Ha, Elge, da wird dir mulmig, wie? Erklär mir mal, was du dir unter Freundschaft vorstellst!“

     „Äh – ich weiß es nicht.“ Jig fragte sich, ob Freundschaft sein Los ändern könnte. Toms Knie drückten seine Oberarme in den weichen Waldboden. Unbehaglich betrachtete er die kräftigen Schenkel, die aus einer kurzen Lederhose ragten. Von Tom wußte man, daß er Handschellen besaß. Echte zum Festnehmen, wie sie in Fox’ Tönender Wochenschau im Kino zu sehen waren. Gleich würde er sie aus der Tasche ziehen und ihm anle­gen. Um ihn für die nasse Folter vorzubereiten. Tom würde ihn wieder und wieder mit dem Kopf unter Wasser halten, bis ihm vor Atemnot schwindlig wurde.

     „Ach, Elge, das weißt du gar nicht!?“ Belustigt kassierte Tom Jigs furchtsame Blicke. „Dann fangen wir’s doch anders an. Schätze mal, du magst mich. Traust dich bloß nicht, es laut zu sagen.“

     Jenseits blau geschlagener Augen mochte jeder Tom. Er war von oben bis unten hübsch anzusehen. Hat­te mächtig Kraft. Dieses As im Sport verkörperte, wie man sich in den fünfziger Jahren einen echten deutschen Jungen vorstellte. Überdies war er ritterlich. Er hörte stets zu, ohne einen zu unterbrechen.

     „Ähm – klar mag ich dich. Sonst wär’ ich ja nicht ge­kommen.“

     „Und jetzt bist du hier. Ich hab’ dich ganz in meiner Gewalt. Ist dir das klar?“

     „Hast du nicht. Mein Geist ist frei. Wie das Rotkehlchen dort im Haselbusch.“ Jig gelang es, die Hand so weit zu heben, um auf den Vogel zu deuten.

      „Pah, was nützt dir dein freier Geist, wenn du mir unterworfen bist.“ Überraschend löste Tom die Knie von Jigs gepeinigten Armen und verschränkte die eigenen. „Kann mir ja denken, was du eigentlich von mir willst. Seit längerer Zeit. Ich soll dich vor denen schützen, die dich ständig hänseln.“

     Jig fühlte sich durchschaut. Ihm saß ein Kloß in der Kehle. Nur nicht heu­len. Dann wäre alles versaut. Auf ewig und drei Tage.

      „Jiggy...“ Überraschend nannte Tom ihn nicht beim Fa­mi­liennamen. Was unter Schuljungen üblich war, die sich nicht näher kannten. Er benutzte sogar die Verkleinerungsform des Vornamens. „Was bietest du mir?“

      Jig schluckte. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Man kam voran. „Phantasie“, rief er kühn.

      „Phan-ta-sie...“ Tom legte den Kopf in den Nacken und musterte den wolkenlosen Himmel. „Tja, könnte interessant werden. Du bist ja in Deutsch noch besser als ich. Bin fast neidisch drauf.“ Er ließ vollends von Jig ab, stand auf und zog ihn hoch. „Aber nicht nur Geist zählt. Eine kleine Probe körperlicher Art solltest du schon bestehen. Um herauszufinden, ob wir auch über gutgeschriebene Aufsätze hinaus zueinander passen. Mir kann einer seine Zuneigung beweisen, indem er sich von mir wehrlos machen läßt.“

     Jig erwog, sich loszureißen und zu flüchten, solange er noch konnte. Bevor die Eisen zuschnappten. Dann sah er seine nackten Füße und Toms Turnschuhe. Er biß sich auf die Lippen. Es richtete sich nun gegen ihn, im Wald gern barfuß zu laufen. Tom würde ihn auf festen Sohlen nach wenigen Me­tern einholen. Gewißlich bestrafte er Flucht mit strengstem Einkerkern.

 

     Raufen und Fesseln – ein kleiner, aber bedeutungsvoller Teil seiner schönen Kindheit. Jeden Tag draußen spielen. In den Hofwiesen des Fürsten. An dessen Fischteichen. Doch am liebsten im Wald. Im Som­mer wie im Winter. Seit dem Studium mußte er die ganze Woche in muffigen Räumen hocken. Den freien Nachmittag verschlang das notwendige Drumherum. Zum Glück kümmerte sich sei­ne Wirtin um das Zimmer und die Kleidung. So konnte er sonntags ins Grüne fahren. Per Bahn in überfüllten Waggons. Wie die meisten Madrileños be­saß er kein eigenes Fahrzeug.

     Plötzlich zuckte sein rechter Arm gewaltig wie unter einem Stromschlag. Irgend etwas hatte ihn gestochen. Heftiger Schmerz fuhr bis in die Hand. Hinsehen konnte er nicht. Eine Hornisse? Ein giftiger Tausendfüßler? Er kontrollierte ratlos die aneinandergeketteten Ar­me. In der rechten Hand prickelte es, Vorbote von Taubheit.

     Mit der Linken tastete er nach dem Schlüssel in der rechten Schelle. Er war weg. Rausgefallen! An das linke Schloß käme er mit den Fingern seiner Linken trotz aller Gelen­kig­keit nicht heran. Zumal der Schlüssel auf der dem Körper zugewandten Seite steckte.

     Nur keine Panik. Ruhig Blut beweisen! Der herausgerutschte Schlüssel mußte unter der rechten Hand am Boden liegen. Sogleich würde er ihn finden. Vorsichtig tastete er den Waldboden ab. Alles Mögliche befühlte er. Kleine Aststückchen, trockene Blätter, verschrumpelte Eicheln. Schlüssel war keiner da. Teufel auch! Ihm schwante, der konnte weggeschleudert worden sein. Bei­de Arme hatte es durch den Schmerz verrissen. Wie bei einem Hampelmann an Bindfäden. Verdattert rückte er sich zurecht. Überschlug die verbliebenen Chancen zur Befreiung. Ohne den rechten Arm lief gar nichts. Der war mittlerweile gefühllos.

     Die Ausbruchsicherheit von Handschellen schätzte Jig realistisch ein. Daran zu zerren war unsinnig. Dem Nibelungen-Boy dämmerte, er habe das Schicksal in sei­ner Blauäugigkeit herausgefordert. Dämonen hielten ihn in ihren Klauen. Auf diese Weise gelähmt hatten sie ihn schon einmal. Im Mittelmeer vor Alicante. In unruhiger See war er zu weit rausgeschwommen. Draußen ein Biß in die Kniekehle, wahrscheinlich von einer Seespinne. War mühselig gewesen, im biestigen Wellen­gang zurückzugelangen. Völlig ausgepumpt hatte er her­nach im warmen Sand gelegen. Erst nach einem Tag war das Knie wieder schmerzfrei gewesen.

     Er konnte nur warten. Bis im tauben Arm das Gift ausgespült war und die Beweglichkeit wieder erwachte. Falls nicht mehr Viecher über ihn herfielen. Um zu demonstrieren, wer die Befehlshaber im Steineichen­wald waren. Lieber nicht daran denken, daß auch der an­dere Schlüssel einen Weitsprung probiert hatte. Dann mußte er um Hilfe rufen. Wer würde ihn hören? Er glaubte sich an die fünf Kilometer von Robledo entfernt. Ausflügler würden frühestens Samstag durch die Berge streifen. In achtundvierzig Stunden also. Bestenfalls in fünfundvierzig. Welch gräßliche Vorstellung!

     Wie würde sein bester Jugendfreund mit so einer Si­tuation klarkommen? Mit Handschellen hatte Tom sich frühzeitig ausgekannt. Durch seinen Patenonkel, einen Feldjäger der Bundeswehr. „Wenn du mal welche probieren willst – Onkel Paul borgt sie mir. Am Wochenende. Kannst zu uns kommen. Erst lesen wir uns aus unseren Werken vor. Wer in den Dingern schläft, würfeln wir aus. Der andere verwahrt den Schlüssel.“

     Jig schmunzelte. Es hatte sich gelohnt, an dem denk­würdigen Nachmittag Mumm bewiesen zu haben. Tom und er waren aus dem gleichen Holz geschnitzt.

 

     „Ich muß mich strecken lassen? Äh, ich weiß nicht.“ Unwillkürlich trat Jig einen Schritt zurück. Obwohl es kein Zurück gab. In gewisser Weise war er furchtlos und abgehärtet gegenüber Stärkeren. Sie konnten ohnehin mit ihm treiben, was sie wollten. Auf der unbewegten Oberfläche des Hexenteichs liefen langbeinige Schnaken Schlittschuh. „Wenn du mich ins Wasser stoßen willst, wie damals die Hexen reingestoßen wurden – dafür brauchst du mich nicht in Ketten zu legen.“

     „Keine Angst, mein Kleiner. Hab’ nichts Übles mit dir vor. Und müssen tust du gar nichts. Kannst wieder abschieben. Oder du folgst mir. Ganz nach Lust und Laune. Wir gehen rauf in den Wald.“

     Heiß und kalt durchrieselte es Jig. Das Abenteuer war erst halb fertig. Mein Kleiner glich allerdings einer Beleidigung. Nur weil der Bursche ein halbes Jahr älter war? Achselzuckend folgte er Tom. Der ging mit großen Schritten und drehte sich nicht um. Das beruhigte Jig. Er konnte zurückbleiben. Einen Haken schlagen. Sich verstecken. Das Waldstück kannte er wie seine Hosentasche. Tom würde ihn nicht finden.

     Bald verließ der den schmalen Pfad und bahnte sich einen Weg durchs Gestrüpp. In einem Areal mit dichtem Unterholz blieb er stehen und sah sich nach Jig um. Er zog ein Schnurknäuel aus der Tasche und entwirrte es. „Entscheide dich!“ rief er. „Du läßt dich fesseln. Oder du schwirrst ab. Gefällt dir der Lederriemen? Der gehört dir! Kannst ihn gleich haben. Und damit nach Hause gehen. Mumm hast du ja bereits bewiesen.“ Erwartungsvoll lächelte er. „Na –?“

     Begehrlich starrte Jig auf die Lederkordel. Wer hatte denn so was? Toms Vater war Kürschner. Das Handwerk ernährte die Familie. Die Schnur wurde zum Zünglein an der Waage. Jig wollte sie haben. Und sie auf der Stelle ausprobieren. Mit Tom. Wie der ihn doch nett anschaute! Einwilligend streckte er ihm die Hände hin.

     Tom strich sich durchs Haar. Er musterte Jigs Arme. „Die Buche da wird für dich passen. Der Baumstamm ist glatt wie ein Marterpfahl. Stehen mußt du aber nicht. Darfst bequem sitzen.“

     Marter und bequem summierten sich tröstlich zu einer Null. Inzwischen war Jig alles gleich. Er hatte Erfahrung mit Gefangenschaft an Bäumen. Hier lief es genauso. Nur daß Tom geschickter vorging als andere Jungen. Im Nu hatte er Jigs Hände hinter dem Stamm über­ein­ander­gelegt und verschnürt. Dann kniete er vor ihm und schob die Beine zum Schneidersitz zurecht. Mit dem Gürtel, den er aus dem Bund seiner Lederhose zog, schnallte er Jigs Füße über Kreuz zusammen.

    „Wozu denn das? Kann doch sowieso nicht weglaufen!“ Jig wurde es etwas bänglich zumute. Gehörten etwa ein paar schallende Ohrfeigen zum Aufnahmeritual gegenseitiger Verbundenheit?

     Tom lachte. „Nee! Abhauen ist vorbei. Kannst dich gar nicht mehr rühren! Könnt’ jetzt alles mit dir anstellen. Paßt gut zu dir, Jig Elge, wie du wehrlos dasitzt.“

     „Wie meinst du das?“

     „Wie ich das meine? Ich hatte Jungs am Baum, die haben sich vor Angst in die Hosen gemacht. Jämmerliche Waschlappen aus unserer Parallelklasse. Du beweist  Stärke. Bist furchtlos. Du gefällst mir.“ Tom blickte Jig verschmitzt an. „Wann gibt’s bei euch Abendbrot?“

     „Halb sieben.“ Jig versuchte die Beine auszustrecken. Der lederne Gürtel vereitelte es knarrend, schnitt warnend in die Knöchel. „Bis dahin soll ich schmoren?“

     „I wo! Ich bind’ dich los, wann du willst. Damit hättest du’s freilich verbimst. Wenn du bis sechs durchhältst, hast du die Probe bestanden.“

     „Hast ja gar keine Uhr!“ Jig schloß die Augen. Weh tat ihm nichts. Gewitter war keins zu erwarten, Blitze, die ihn zerschmettern würden. Im Grunde konnte er es bis Mitternacht aushalten.

     „Seh’ ich an der Sonne, wie spät es ist.“ Tom stand auf und spuckte in hohem Bogen in die Brennesseln. „Ich mach’ einen Rundgang. Bleibe aber in der Nähe. Jedenfalls kann dir nichts passieren.“

     Jig spürte ein beunruhigendes, sonderbar wirbelndes Gefühl zwischen den Beinen. Kam öfters vor in letzter Zeit. Als wenn er pissen müßte. „Pah! Ich werde mich selber befreien.“

     Tom zwängte sich bereits durchs dichte Gebüsch. „So? Alle Phantasie der Welt hilft dir da nicht raus! Den Riemen hab’ ich gestern abend erst geschnitten. Das frische Leder ist so arg verschlungen – hoffentlich krieg’ ich es wieder auf. Hab’ kein Taschenmesser dabei.“

     „Und wenn ich pissen muß?“

     Tom grinste. „Dann halte durch. Oder laß es laufen. Soviel sollte dir meine Kameradschaft schon wert sein.“

 

     Jig lauschte auf den schwachen Wind in den Pinien. Er kniff die Augen zusammen. Hatte er je pissen müssen, so an einen Baum gebunden? Nicht bei Tom. Später unter Yerais Fuchtel. Der Satansbraten hatte ihm zuerst das Phänomen mit dem osmotischen Druck erklärt. Dann zum Beweis kaltes Atlantikwasser in die Hose gegossen. Ak­kurat vom Na­bel abwärts. Gehorsam hatte die Blase sich entleert. Der Kerl hat­te vor Vergnügen einen Purzelbaum geschlagen. „Jungen wie du, die noch nicht trocken hinter den Ohren sind, kriegen schnell mal feuchte Beine. Mein Kleiner!“

    Nicht selten hatten Stärkere ihn mein Kleiner genannt. Das war in Ordnung, wenn einer wie Tom ihn um einige Zentimeter überragte und ein paar Monate älter war. Bei dem um zwei Jahre jüngeren Yerai hatte er es sich energisch verbeten. Mit dem niederschmetternden Ergebnis, ausgelacht zu werden. „Die stärkeren Arme zählen. Den Wortschmus kannst du dir ins Haar schmieren.“

 

     „Was ist denn nun?“ fragten die Geschwister Llama scheinheilig. „Kleiner, willst du den lieben langen Tag hier rumsitzen und Maulaffen feilhalten?“

     Im rechten Arm prickelte es warm und beruhigend. Die Nerven nahmen ihre Arbeit wieder auf. Jig tastete sich zur linken Handschelle vor. Auch dort steckte der Schlüssel nicht mehr. Bestürzt murmelte er vor sich hin: „Auweia! Das nennt man super schief gelaufen.“

     So weit der Radius der Hände reichte, suchte er den Waldboden ab. Nichts! Er war sich im klaren, blind tastete er womöglich ständig an der Stelle vorbei, wo der Schlüs­sel lag. Erschöpft lehnte er sich zurück. Die Polizeihandschellen hatte er zu sehr als Spielzeug betrachtet. Da sie niedlich aussahen, harmlos glänzten und mit einer halben Schlüsseldrehung geradezu preußisch zuverlässig auf­schwangen. In Wirklichkeit waren es kleine Monster, denen er gestattete, seine Arme um den Baum herum lahmzulegen. Die Muskeln spielen zu lassen, wäre sinnlos. Setzte er alle Kraft mit einem Ruck ein, brächen möglicherweise seine schmalen Gelenke, ohne daß die mit zwei Kettengliedern verbundenen Metallbügel nur einen Milli­meter nachgaben.

     Er spürte, wie er willenlos zitterte. Gab es irgendeine Möglichkeit, sein Los zu wenden? Die Lage schien hoff­nungslos. An die Steineiche gekettet, blieb ohne Schlüssel gegen die ausgetüftelte Ingenieurskunst genieteten Stahls nicht die geringste Chance.

    

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