Die Ballade von den beiden Freunden
Lederbengel Tom und Handschellen-Jig

 

 

 

                                                

                                             

                                                 Vorbemerkung

     Diese kleine Story richtet sich an alle, die in den fünfziger Jahren selbst an der Schwelle zur Pubertät standen oder von ihren Eltern auf die friedvollen zwei Jahrzehnte nach den verheerenden Weltkriegen neugierig gemacht wurden. Kinder sind sich des Paradieses, in dem sie spielen dürfen, zu keiner Zeit bewußt. Nur großer Abstand und der Blick zurück ermöglichen eine halbwegs verläßliche Wertung, die natürlich, von individuellen Erlebnissen geprägt, höchst verschieden ausfallen wird. Wie auch immer, war jene Epoche geprägt von großer Freiheit und Selbständigkeit der Kids. Auf Seite der Eltern bestand eine lockere Aufsicht, darauf bauend, ihre Sprößlinge würden sich im entsprechend durch Moral und Vernunft vorgegebenen Rahmen bewegen. Übertretungen wurden mit Ohrfeigen oder dem Rohrstock geahndet, in der Schule wie daheim.


     Heute sind die Umstände weder besser noch schlechter, dem Zahn der Zeit folgend eben einfach anders. Der einst vielseitig verwendbare Kram in Hosentaschen ist durch einen Mini-Computer ersetzt, der jeden erdenklichen Gegenstand mit ein paar Klicks aus den Weiten des Internets virtuell heranschafft. Womit die Rolle der Phantasie als Vorbedingung für jegliche Art spielerischen und kreativen Tuns arg zusammengestrichen wird. Ungestüme körperliche Annäherung, dieser starke Ausdruck kindlichen und jugendlichen Umgangs, ist derzeit nicht ganz unproblematisch. Bereits Achtjährige beschimpfen sich gegenseitig mit Wörtern wie "schwul". Und ein Lehrer läuft Gefahr, sich vor dem Gesetz verantworten zu müssen, wenn er einem Schüler, sei es auch nur als Ausdruck spontanen Lobes, auf die Schulter greift.


     So scheint es fast, daß Kids und Teens momentan in ihrer freien Entfaltung durch Überregulierung und einem Zuviel an Behütung eher behindert als gefördert werden. Doch sobald die jetzige Generation erwachsen ist, kann sie ja dem Zeitgeist wieder einen gegenläufigen Schubs geben.

 

 

                                                       1

     „Was? Mitten in der Woche?“ Der Chefin war es nicht recht, daß Jig an einem Donnerstag frei haben wollte.
     „Ich hole es am Sonntag nach. Montag früh ist die Arbeit fertig. So oder so.“
     „Jig, Sie wissen, daß Urlaub Ihnen erst nach einem halben Jahr zusteht!?“
     „Ich will keinen Urlaub, Señora. Nur einen Arbeitstag tauschen. Die Materie ist neu für mich. Sonntags ist kein Kundenverkehr. Da habe ich mehr Ruhe zum Arbeiten.“ Am Wochenende, malte Jig sich aus, hätte er in den Bergen null Ruhe vor zahllosen Familien, die mit Kind und Kegel überall hin ausschwärmten.
     Selma besaß den Zuschnitt einer Walküre und das markante Gesicht eines Filmstars der Dreißiger Jahre. Mit Jig hatte sie sich auf Anhieb gut verstanden. Sie schätzte seine norddeutsche Anständigkeit und sein kindliches Erstaunen über alles Unbekannte in dem für ihn unbegreiflich fremden Land. Natürlich bekam er frei.



     Am Mittwoch nahm er in Madrid-Atocha den letzten Zug nach Robledo de Chavela. Aß zu Abend und schlief traumlos in der Fonda nahe des Bahnhofs. Am Morgen, gleich nach dem Frühstück, ging es in die Wälder. Bald begegnete er niemandem mehr. Zeit sich einzustimmen. Hände auf den Rücken. Ratsch, ratsch! Die spanischen Handschellen mit dem eigenwilligen Namen Llama saßen, als wären sie maßgemacht für seine Gelenke. Schön eng. Durchsteigen war nicht drin. Hatte er schon probiert. Je ein Schlüssel steckte in den Gesäßtaschen seiner Levi’s. Sich zu befreien, auch mit den Händen auf dem Rücken, war eine Sache von Sekunden. Das hatte er wieder und wieder geübt. Wohlan, Freak, bergaufwärts! Vor der steilstehenden Junisonne schützten ihn ein langärmeliges Hemd und ein Strohhut. Es war ein herrlicher Tag. Vom Himmel winkten blendend weiße Haufenwolken.
     Er konnte zwischen Pinien und Steineichen wählen, Bäume mit rissiger Rinde. German Boy, im Stil der Nibelungen auf Abenteuer aus, wählt Eiche. Plumpst hin. Schöpft Atem nach dem steilen Aufstieg. Geht das Vorhaben nochmals durch. Steht wieder auf. Kontrolliert den Boden. Zwischen Gras und Kräutern keine Ameisen. Auch keine in der Nähe. Nichts krabbelt am Baum herum.
     Nun denn! Dann laß dich nieder, Jiggy! Arme nach hinten. Erlaubt der dicke Stamm genügend Spielraum? Riesig! Kommst du an die Schlösser ran? Locker! In jedem steckt der Schlüssel. Du bist nach allen Seiten abgesichert. Brauchst nur noch die Patschen hinzuhalten... Ratsch!
     ,He, was zögerst du?’ fragt die andere Schelle. ‚Keinen Mumm?’
     ‚Mumm schon. Aber kann man euch trauen? Ihr geht womöglich erst heute abend wieder auf.’
     ‚Quatsch! Dem Schlüssel gehorchen wir aufs Wort. Gehört zu unseren Pflichten. So wie dich festzuhalten. Wenn Festhalten angesagt ist. Für wie lange auch immer.’
     Ratsch...! Jig schließt die Augen. Was es doch jedesmal für ein sonderbar brennendes Gefühl ist, so eingeengt dazusitzen! Von Kind an hatte er es irgendwie gern gehabt. In süßsauer. „Du mußt dich wehren“, sagten die Kameraden. Wenn er sich ihnen einfach ergeben und es reglos zugelassen hatte, daß sie ihn verschnürten. „Ein echter Junge läßt sich nicht fesseln“, belehrten sie ihn. „Jetzt bist du hilflos. Hast satt Zeit, drüber nachzudenken.“
     Hier in der Sierra ist er nicht hilflos. Muß nicht überlegen, wie er wieder freikommt. Kann das Spiel beenden, wann er will. ,Streck die Beine aus, Jiggy!’ wisperten seine Wächter. ,Entspann dich! Jetzt darfst du träumen...’
     „Okay“, willigte er ein. „Warum nicht am hellen Tag träumen, Jig? Nichts spricht dagegen, die Handschellen noch etwas enger zu machen.“ Klick, klick. Mann, ist das edel! Die Arme fest um den Baumstamm geschlungen – es fühlt sich so super an wie in den besten Zeiten mit Tom...

                                                           2

     Mit zwölf Jahren hatte Jig einen Klassenkameraden förmlich angebetet. Der wie er ein Einzelgänger war und lärmende Gruppenaktivitäten verabscheute. Jigs mündliches Freundschaftsgesuch wurde wortlos mit spöttischen Lächeln beantwortet. Schien Ablehnung zu bedeuten.
     Zwei Tage später bekamen nur die beiden für ein schwieriges Diktat Note Eins. Tom schob Jig im Vorübergehen einen Zettel zu. „Wenn du genügend Mumm hast, sei um drei am Hexenteich.“
     Verblüfft starrte Jig ihm nach. Mumm für was? Der Junge rempelte gerade einen Kameraden ruppig zur Seite. Nur weil er ihm im Weg stand. Mumm, um verprügelt zu werden?
     Der Hexenteich lag oberhalb der Stadt im Wald. Im Mittelalter hatte man dort Steine gebrochen. So war ein tiefer Teich entstanden. Zum Schwimmen nicht ohne Tücken. Schlingpflanzen lauerten im Wasser. Es hieß auch, ein nacktes Mädchen mit Fischschwanz lebe darin, klammere sich bevorzugt an Jungenbeine, und wenn das geschähe, müsse man unweigerlich ertrinken. Gesehen hatte die Wassernymphe im 20. Jahrhundert noch niemand. Auch nicht in Vollmondnächten, wenn sie nach alter Überlieferung den Teich verließ, im Wald lustwandelte und nach Liebespaaren Ausschau hielt.
     Tom wartete schon. Als sie sich die Hand gaben, verdrehte er Jig flugs den Arm, warf ihn zu Boden und nahm rittlings auf ihm Platz. „Kleiner, zweifellos hast du Mumm. Hast du auch davon gehört, was ich mit Gefangenen anstelle?“
     Jig nickte stumm. Ohne ein blau geschlagenes Auge kam keiner davon, der sich mit Tom anlegte. Ein blaues Auge konnte er verschmerzen, wenn seinen Kameraden kundgetan würde, daß er furchtlos einen Stärkeren herausgefordert hatte.
     „Jetzt erklär mir mal, was du dir unter Freundschaft vorstellst!“
     „Äh – ich weiß nicht.“ Jig fragte sich, zu was Freundschaft hier gut wäre. Toms Knie drückten seine Oberarme fest in den weichen Waldboden. Unbehaglich starrte er auf Toms kurze Lederhose. Von Tom wußte man, daß er Handschellen besaß. Echte, wie man sie in Filmen sah. Gleich würde er sie aus der Tasche ziehen und ihn vollkommen erledigen. Vielleicht hatte er sich für ihn die Wasserfolter ausgedacht.
     „Ach, das weißt du gar nicht!?“ Belustigt kassierte Tom Jigs Blicke. „Dann fangen wir’s doch anders an. Schätze mal, du magst mich. Traust dich bloß nicht, es zu sagen.“
     Jenseits blaugeschlagener Augen mochte jeder Tom. Er war hübsch. Hatte mächtig Kraft. Dieses As im Sport verkörperte, was man sich in den fünfziger Jahren unter einem echten Jungen vorstellte. Überdies war er freundlich. Er hörte stets zu, ohne einen zu unterbrechen. „Ähm – klar mag ich dich. Sonst wär’ ich nicht gekommen.“
     „Doch jetzt bist du hier.“ Tom nahm die Knie von Jigs Armen und verschränkte seine. „Kann mir schon denken, was du eigentlich willst. Ich soll dich vor denen schützen, die dich ständig hänseln.“
     Jig fühlte sich durchschaut. Ihm saß ein Kloß in der Kehle. Bloß nicht heulen. Gleich wäre alles versaut. Für immer und drei Tage.
     „Jiggy...“ Überraschend nannte Tom ihn nicht beim Familiennamen. Was unter Schuljungs üblich war, die sich nicht näher kannten. Er benutzte sogar den Diminutiv des Vornamens. „Was bietest du mir?“
     Jig schluckte. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Man schien voranzukommen. „Phantasie“, rief er kühn.
     „Phan-ta-sie...“ Tom legte den Kopf in den Nacken und musterte den wolkenlosen Himmel. „Könnte interessant werden.“ Er ließ von Jig ab und zog ihn hoch. „Aber eine kleine Probe körperlicher Art mußt du schon bestehen. Damit wir wissen, ob wir nicht bloß in Deutsch mit gutgeschriebenen Aufsätzen zueinander passen. Was meinst du – läßt du dich von mir fesseln?“
     Jig erwog, ob er flüchten solle, solange er noch konnte. Bevor er Handschellen angelegt bekam. Dann sah er seine nackten Füße und Toms Turnschuhe. Er biß sich auf die Lippen. Es richtete sich nun gegen ihn, im Wald immer barfuß zu laufen. Tom würde ihn auf festen Sohlen nach wenigen Metern einholen. Womöglich bestrafte er Flucht mit sofortiger Folter.

     Raufen und Fesselspiele... Jig lächelte. Ein kleiner, aber bedeutsamer Teil seiner schönen Kindheit... Jeden Tag draußen spielen. In den Hofwiesen des Fürsten. An dessen Fischteichen. Aber am liebsten im Wald. Im Sommer wie im Winter. Jetzt mußte er die ganze Woche in muffigen Räumen hocken. Den freien Nachmittag verschlang das notwendige Drumherum. Zum Glück kümmerte sich seine Wirtin um das Zimmer und um seine Kleidung. So konnte er sonntags ins Grüne fahren. Per Bahn in stets überfüllten Waggons. Wie die meisten Madrileños hatte er kein Fahrzeug.
     Plötzlich zuckte sein ganzer Körper wie unter einem elektrischen Schlag. Etwas hatte ihn in den Arm gestochen. Greller Schmerz zog bis in die Hand. Nachsehen konnte er nicht. Vielleicht eine Hornisse. Oder ein giftiger Tausendfüßler. Ratlos bewegte er die gefesselten Arme. Die rechte Hand wurde rasch wie taub. Mit der Linken tastete er nach dem Schlüssel in der rechten Handschelle. Er war weg! Wahrscheinlich rausgefallen. An die linke Handschelle käme er mit den Fingern seiner Linken trotz aller Gelenkigkeit nicht heran. Zumal der Schlüssel auf der dem Körper zugewandten Seite steckte.
     Nur keine Panik! Ruhig Blut beweisen! Der herausgerutschte Schlüssel mußte unter der rechten Hand am Boden liegen. Gleich würde er ihn finden. Vorsichtig tastete er den Waldboden ab. Alles Mögliche befühlte er. Kleine Aststückchen, trockene Blätter, verschrumpelte Eicheln. Schlüssel war keiner da. Teufel auch! Ihm schwante, der konnte weggeschleudert worden sein! Alle Glieder hatte es durch den Schmerz verrissen. Wie bei einem Hampelmann. Verdattert saß er da. Überschlug die verbliebenen Chancen zur Befreiung. Ohne den rechten Arm lief nichts. Der war mittlerweile vollkommen gefühllos.
     Die Ausbruchsicherheit von Handschellen schätzte Jig realistisch ein. Es war sinnlos, daran zu zerren. Dem Nibelungen-Boy dämmerte, er habe das Schicksal in seiner Blauäugigkeit herausgefordert. Jetzt hielten Dämonen ihn in ihren Klauen. Gelähmt worden auf diese Weise hatten sie ihn schon einmal. Im Mittelmeer vor Alicante. Er war weit rausgeschwommen, provozierend weit. Draußen ein Biß ins Knie, wahrscheinlich von einer Seespinne. War mühselig gewesen, im biestigen Wellengang zurückzugelangen. Völlig ausgepumpt hatte er dann im warmen Sand gelegen. Erst nach einem Tag hatte das Knie wieder richtig gehorcht.
     Jetzt konnte er nur warten. Bis im tauben Arm das Gift ausgespült war und die Beweglichkeit wieder erwachte. Falls nicht mehr Viecher über ihn herfielen. Um zu demonstrieren, wer die wahren Herren im Steineichenwald waren. Lieber nicht daran denken, daß vielleicht auch der andere Schlüssel einen Weitsprung probiert hatte. Dann konnte er nur noch um Hilfe rufen. Wer würde ihn hören? Er glaubte sich etwa fünf Kilometer von Robledo entfernt. Ausflügler würden frühestens am Samstag durch die Berge streifen. Also in achtundvierzig Stunden. Bestenfalls in fünfundvierzig. Welch grausige Vorstellung!
     Wie würde sein bester Jugendfreund mit so einer Situation klarkommen? Mit Handschellen hatte er sich ausgekannt. Sein Patenonkel war Feldjäger bei der Bundeswehr. „Wenn du mal welche probieren willst – Onkel Paul borgt mir welche. Am Wochenende. Du kannst zu uns kommen. Erst lesen wir uns aus unseren Werken vor. Wer dann in Handschellen schlafen muß, würfeln wir aus. Der andere verwahrt den Schlüssel.“
     Jig lächelte. Hatte sich mächtig gelohnt, an jenem denkwürdigen Nachmittag Mumm bewiesen zu haben. Tom und er waren aus dem gleichen Holz geschnitzt.



     „Ich muß mich fesseln lassen? Äh – ich weiß nicht.“ Unwillkürlich trat Jig einen Schritt zurück. Obwohl es kein Zurück gab. In gewisser Weise war er furchtlos und abgehärtet gegenüber Stärkeren. Sie konnten ohnehin mit ihm machen, was sie wollten. Auf dem unbewegten Wasser des Hexenteichs liefen Schnaken Schlittschuh. „Wenn du mich ins Wasser stoßen willst, wie damals die Hexen reingestoßen wurden – dazu brauchst du mir nicht Handschellen anzulegen.“
     „Keine Angst, mein Kleiner. Hab’ nichts Übles mit dir vor. Und müssen tust du gar nichts. Kannst jetzt gleich wieder abschieben. Oder du folgst mir ganz nach Lust und Laune nach. Rauf in den Wald.“
     Irgendwie war Jig auf ein Abenteuer eingestellt. Es schien erst halb fertig. Mein Kleiner glich allerdings einer Beleidigung. Nur weil der Bursche ein halbes Jahr älter war? Achselzuckend lief er hinter Tom her. Der ging mit großen Schritten und drehte sich nicht um. Das beruhigte Jig. Er konnte zurückbleiben. Einen Haken schlagen und sich verstecken. Das Waldstück hier kannte er wie seine Hosentasche. Tom würde ihn nicht finden.
     Bald verließ der den schmalen Pfad und bahnte sich einen Weg durchs Gestrüpp. In einem Areal mit dichtem Unterholz blieb er stehen und sah sich nach Jig um. Er zog ein Knäuel aus der Tasche und entwirrte es. „Entscheide dich!“ rief er. „Laß dich fesseln oder schwirr’ ab. Handschellen habe ich keine mit. Der Lederriemen tut’s genauso. Er gehört in jedem Fall dir. Mumm hast du ja schon bewiesen.“ Erwartungsvoll sah er Jig an.
     Begehrlich starrte Jig auf die Lederkordel. Wer hatte schon so was? Toms Vater war Kürschner. Das Lederhandwerk ernährte die Familie. Der Riemen wurde zum Zünglein an der Waage. Jig wollte ihn nicht nur haben. Er wollte ihn gleich ausprobieren. Mit Tom. Wie der ihn anlächelte! Stumm nickte er.
     Tom atmete tief durch. Er musterte Jigs Arme. „Die Buche da wird für dich passen. Der Baumstamm ist glatt wie ein Marterpfahl. Stehen mußt du aber nicht. Darfst bequem sitzen.“
     Marter und bequem summierten sich possierlich zu null. Inzwischen war Jig alles gleich. Er hatte schon Erfahrung mit Gefangenschaft an Bäumen. Hier lief es genauso. Nur das Tom äußerst fix war. Im Nu hatte er Jigs Hände hinter dem Stamm fest verschnürt. Dann setzte er sich vor ihn und schob Jigs Beine zum Schneidersitz zurecht. Mit dem Gürtel aus dem Bund der Lederhose schnallte er ihm die Füße über Kreuz zusammen.
    „Was soll das? Kann doch sowieso nicht weglaufen!“ Jig wurde es doch etwas mulmig. Vielleicht gehörte eine Serie Ohrfeigen zum Aufnahmeritual gegenseitiger Freundschaft.
     Tom lachte. „Ein Beispiel, wie man jemand bombensicher erledigt. Paßt gut zu dir, wie du so wehrlos dasitzt."
     „Wie meinst du das?"
     „Du bist mutig. Das gefällt mir." Tom starrte Jig unentwegt an. Er grinste spitzbübisch. „Wann gibt’s bei euch Abendbrot?“
     „Halb sieben.“ Jig versuchte, die Beine zu bewegen. Der Ledergürtel knarrte ungnädig. „Muß ich so lange schmoren?“
     „I wo! Ich bind’ dich jederzeit wieder los. Damit hättest du’s allerdings verbimst. Wenn du bis sechs durchhältst, gilt die Probe.“
     „Hast ja gar keine Uhr!“ Jig schloß die Augen. Weh tat nichts. Gewitter war keins zu erwarten, Blitze, die ihn zerschmettern würden. Im Grunde konnte er es bis Mitternacht aushalten.
     „Sieht man doch an der Sonne, wie spät es ist." Tom stand auf und spuckte in hohem Bogen in die Brennesseln. „Ich mach’ einen Rundgang. Bleibe aber in der Nähe. Jedenfalls kann dir hier nichts passieren.“
     Jig spürte ein beunruhigendes, sonderbar wirbelndes Gefühl zwischen den Beinen. Kam öfters vor in letzter Zeit. Als wenn er pissen müßte. „Pah! Ich kann mich bestimmt selbst befreien.“
     Tom zwängte sich bereits durchs dichte Gebüsch. „So? Alle Phantasie der Welt hilft dir da nicht raus! Riemen aus frischem Leder, fest verschlungen. Hoffentlich krieg’ ICH sie wieder auf. Hab’ kein Taschenmesser dabei.“
     „Und wenn ich pissen muß?“
     Tom kicherte. „Laß es laufen. Soviel muß Freundschaft dir schon wert sein.“

     Jig kniff die Augen zusammen. Hatte er je pissen müssen, so an einen Baum gepinnt? Bei Tom wohl nicht. Aber später unter Quees Fuchtel. Der Satansbraten hatte ihm zuerst das Phänomen mit dem osmotischen Druck erklärt. Dann zum Beweis Eiswasser in die Hose gegossen. Akkurat vom Nabel abwärts. Gehorsam hatte die Blase sich entleert. Sein Halbbruder hatte vor Vergnügen einen Purzelbaum geschlagen. „Jungs wie du, die noch nicht trocken hinter den Ohren sind, kriegen gefesselt schnell mal feuchte Beine. Mein Kleiner!“
     Immer hatten Stärkere ihn mein Kleiner genannt. Das war in Ordnung, wenn einer wie Tom ihn um einige Zentimeter überragte und ein halbes Jahr älter war. Beim zwei Jahre jüngeren Quee hatte er es sich energisch verbeten. Der hatte ihn ausgelacht: „Die stärkeren Arme zählen. Deinen Wortschmus kannst du dir ins Haar schmieren, mein Kleiner.“
     ,Was ist denn nun?’ fragten scheinheilig die Handschellen. ,Kleiner, willst du den lieben langen Tag hier rumsitzen?’
     Im rechten Arm prickelte es warm und beruhigend. Die Nerven nahmen ihre Arbeit wieder auf. Jig tastete sich zur linken Handschelle vor. Auch dort steckte der Schlüssel nicht mehr. Sarkastisch murmelte er vor sich hin: „Mann, das nennt man super schief gelaufen!“
     So weit der Radius der Hände reichte, suchte er den Waldboden ab. Ohne Ergebnis. Er war sich klar darüber, daß er blind suchte und vielleicht immer wieder dasselbe Stück abtastete. Erschöpft lehnte er sich zurück. Er hatte die Handschellen zu sehr als Spielzeug betrachtet. Weil sie niedlich aussahen, einladend glänzten und per Schlüsseldruck geradezu singend aufschwangen. In Wirklichkeit waren es kleine Monster, die sich in die Unterarme verbissen hatten. Ließe er es auf eine Kraftprobe ankommen, spielte er all seine Kräfte mit einem scharfen Ruck aus, würden vermutlich seine Gelenke brechen, bevor die Stahlbügel auch nur einen Millimeter nachgaben.
     Wieder wurde ihm heiß und kalt zugleich. Blieb irgendeine Möglichkeit, sein Los zu wenden? Die Lage schien aussichtslos. So an die Steineiche gekettet, hatte er ohne Schlüssel gegen die ausgetüftelte Ingenieurskunst zusammengenieteten Stahls nicht die geringste Chance.
     Vielleicht war der Baum schuld. Der zweite Schurke im Bunde, der die Bewegungsmöglichkeit auf ein Minimum reduzierte. Aus Toms Lederfesseln hatte er manchmal ausbüchsen können. Sogar mit den Händen auf dem Rücken. Jedoch nie, wenn er zu einem Stündchen an seinem Buchenmädchen verdonnert worden war.

     Jig wartete, bis Tom nicht mehr zu hören war. An den Füßen war nichts zu machen. Bei der geringsten Bewegung knarrte der Gürtel unwillig. Er tastete die Handfesseln ab, so weit er herankam. Bei all seiner Geschicklichkeit vermochte er mit den Fingern keine Windung des Lederriemens, der die Gelenke zusammenband, anzuheben. Wahrscheinlich hätte nicht einmal eine Stricknadel darunter gepaßt. Die Schnürung war so stramm, daß er die Hände auch nicht drehen konnte. Als er es mit aller Kraft versuchte, schnitt der dünne Riemen schmerzhaft in die Haut. Schließlich gab er die sinnlosen Versuche auf. Sonst säße er am nächsten Morgen mit roten Striemen in der Schulbank.
     ,O là là, Elge! Was ist denn mit deinen Handgelenken?’
     ,Gar nichts. ’
     ,So? Das sieht anders als nach gar nichts aus.’
     ,Na ja... Ist von Freundschaftsbändern. Hatt’ ich zu stramm gemacht.’
     ,Ach nee, wirklich...! He, alle mal herhören! Den Elge hat gestern jemand in die Pfanne gehauen. Dürfen wir erfahren, wer dir die Freundschaftsbänder verpaßt hat?’
     Jungs in der Meute ließen nicht locker. Man geriet in den Schwitzkasten. Gelang es nicht, plausibel genug zu lügen, drohte schärfere Folter.

     Die Abendsonne schien Jig ins Gesicht, als Tom zurückkam. Gähnend. Offenbar hatte sich des Kürschners Sohn eine Weile aufs Ohr gelegt und war eingeschlafen. In seinen Haaren hing wippend ein Grashalm. An der Lederhose klebten Kletten.
     „He Jiggy, hat wohl nicht geklappt mit dem Abhauen!?“
     „Pah! Hätt’ schon können. Hielt es aber für besser, hier auszuharren.“
     „Schwindler!“ Tom lächelte amüsiert und schob die Hände in die Hosentaschen. Jig, den er bisher nicht so recht wahrgenommen hatte, gefiel ihm. Er kannte seine Mitschüler von Geländespielen zur Genüge. Keiner würde sich so widerstandslos verpacken lassen wie Jig. Jeden einzelnen konnte er hören: ,Mach’ mich sofort los, oder ich sag’s meinem Vater!’
     „Hätt’ ja dann nicht gegolten.“
     „Du bist härter, als ich dachte. Ich dachte, du wärst ein blutleerer Einsenschreiber.“ Tom kniete nieder und befreite Jig vom Gürtel, der die Füße über Kreuz hielt. „Hat dir was weh getan?“
     „Nein. Könnten wir wohl Freunde sein?“
     „Klar.“ Tom machte sich an den Handfesseln zu schaffen. Es dauerte eine Weile, bis er die Schlingen entwirrt hatte. „Komm, steh auf, Jiggy! Frisch gebackene Freunde sollten sich richtig die Hand reichen.“
     Jigs Beine waren durch die unnatürliche Position lahm geworden. Schwankend erhob er sich. Tom merkte es und griff ihm stützend unter die Achseln. „Krieg’ ich den Arm gleich wieder auf den Rücken gedreht?“ fragte Jig argwöhnisch.
     „Hör schon auf!“ Schweigend streckten sie sich die Hände entgegen und schlugen ein. Beide schnieften verlegen. Ein Eichhörnchen war Zeuge. Es putzte sich auf einem Ast über ihnen die Pfoten. Dann schlang Tom den Lederriemen um Jigs rechte und seine linke Hand und schnürte ihre Gelenke zusammen. „So geh’n wir nach Hause. Es besiegelt unsere neue Verbundenheit“, sagte er.
     Jig war selig. Er hätte alles mit sich geschehen lassen. Hätte nie gedacht, Tom so schnell für sich zu gewinnen.
     Die Jungen trabten den breiten Waldweg hinab. Stumm in das Abenteuer dieses Nachmittags versunken. Bis Tom sagte: „Falls es dir heute nicht zuwider war – darf ich dich wieder mal fesseln?“
     „Ähm – warum nicht?“ Jig hätte Tom am liebsten umarmt. Nur war das im Moment nicht praktikabel. „Dann zeig’ ich dir mal, wie man aus so was rausrutscht.“
     „Aus meinen Fesseln entkommt niemand."
     „Und wenn doch?" Jig puffte Tom mutig in die Rippen. "Darf ich dich dann mal auf meine Art gefangennehmen?"
     „Ähm – auf deine Art? Wie ist das?"

                                                          3

     ,Auf deine Art...' Seine Art hatte ihn idiotisch in die Falle geritten!
     Jig schloß erschöpft die Augen. In bezug auf Reiß- und Bruchfestigkeit konnte ein solider Lederriemen mit Handschellen gleichziehen. Selbstbefreiung aus dem einen wie dem andern war, technisch betrachtet, ein weites Feld, bewachsen mit vielen Variablen, aber wenigen Konstanten. Von Sachkundigen höchst widersprüchlich dargestellt.
     Sie hatten Toms dünne Lederriemen erprobt. Man konnte locker zehn Kilo dranhängen, ohne daß sie rissen. „Bei acht Windungen um deine Handgelenke müßtest du einen Zug von mehr als hundert Kilo ausüben, um den Riemen zu sprengen. Mein Vater, der Festigkeit testen muß, sagt, es addiere sich noch anders. So wie ein acht mal breiterer Riemen weit mehr als achtfacher Krafteinwirkung standhält.“
     Jig wußte nicht, wieviel Handschellen aushielten. Wahrscheinlich gab es Messinstrumente, an denen Kraftprotze zeigten, welchen Zug sie schafften, und danach hatte man Form und Stärke der Bügel berechnet. Letztlich konnte sich wohl kein normaler Sterblicher freibrechen.
     Er argwöhnte, seine Arme würden durch die unnatürliche Zerrung allmählich steif. Viel Zeit blieb vermutlich nicht, das Blättchen zu wenden. Er mußte handeln. Sich hundertachtzig Grad um den Stamm herum schieben, damit er das Schlachtfeld überblicken konnte. Leichter gedacht als getan. Sein schmaler Arsch schien auf einmal doppeltes Gewicht zu haben. Da die Hände runterhingen wie welke Melonenblätter, hatten die Füße die gesamte Arbeit zu leisten. Gottlob hatte er wohlweislich darauf verzichtet, sie mit dem Lederriemen in der Hosentasche nach Toms Rezept über Kreuz zusammenzuschnüren. Dann wäre wirklich alles aus gewesen.
     Es wurde eine unbequeme Reise auf kleinstem Raum. Irgendwo schien der Baumstamm in Höhe seiner Ellbogen eine Verdickung aufzuweisen. Die Arme tiefer zu halten, nutzte nichts. Ein Stück weiter oben protestierten seine Schultern mit scharfem Schmerz, aber er schaffte es, die Klippe zu umschiffen. Ein paarmal den Hintern heben, und das gelobte Land war erreicht.
     Jig lauschte auf die Geräusche des Waldes. Vogelgezwitscher. Weit weg hämmerte ein Specht. Seine Handschellen kicherten boshaft: ,Das haste davon! Schmorst hier morgen noch. Da kannste einen drauf lassen.' Seinen Humor hatte er nicht verloren. „Seid nicht so ordinär! Oder ihr dürft das nächste Mal nicht mit.“
     Einen Schlüssel entdeckte er vor seinen Füßen. Zum Glück war er den ganzen Weg im Wald barfuß gelaufen. Sonst gäbe es jetzt das Problem, erst mal die engen Turnschuhe abzustreifen. Vorsichtig spielten die Zehen Pinzette und legten den Schlüssel an einer Stelle fünf Zentimeter vom Stamm entfernt ab, wo die Hände bestimmt hinlangen konnten. Und der zweite? So genau er Stück für Stück des Waldbodens inspizierte – kein blitzendes Metall zu sehen! Vielleicht in die Rinde am Stamm gehüpft? Jig legte den Kopf in den Nacken. Der Baumwipfel war kahl und bewegte sich unmerklich im schwachen Mittagswind. Die Sonnenstrahlen blendeten ihn. Falls der Schlüssel dort steckte, würde er ihn nicht sehen können.
     Er wollte sich schon mit einem Öffner zufrieden geben, da entdeckte er den zweiten Ausreißer doch noch. Er steckte an einem kahlen Astende eines Speick-Strauches. Fürwahr ein toller Hüpfer! Leicht außerhalb der Reichweite seiner Füße. Ein Stückchen vorrobben, auch wenn die Arme wieder protestierten, den Fuß vorsichtig nähern, damit der Zweig den Schlüssel nicht etwa weiterkatapultierte, und – schnapp! Geschafft. Als er den Schlüssel neben dem anderen ablegte, bekam er durch die grotesken Winkel, die Fuß, Bein und Schenkel herstellen mußten, einen Wadenkrampf. Für Minuten wurde Jig in anderer Weise gelähmt.
     Auf der Rückreise stoppten die Arme energischer als zuvor an der Verdickung des Stammes. Wie störrische Maulesel: Bis hierhin und nicht weiter. Neunzig Grad hatte Jig geschafft. Wie er die Arme auch hob oder senkte, greller Schmerz bedeutete rotes Licht für die fehlenden neunzig Grad. Er probierte nochmals, ob die Stahlfesseln nicht über Elle und Speiche auf die Handwurzel zu schieben seien. Aussichtslos! Seine Vorsichtsmaßnahme bezüglich Schonung empfindlicher Nervenbahnen wurde hier zum Bumerang.
     Eine Woge von Selbstmitleid überrollte ihn. Gib auf, Junge! Selbst wenn du die restliche Vierteldrehung schaffst – deine Hände machen doch gar nicht mehr mit! Glaubst du im Ernst, die Finger könnten noch was greifen? Oder einen Schlüssel vom nächsten Tausendfüßler derselben Familie unterscheiden, ausgeschickt, dir mit seinem Giftbiß den Rest zu geben?
     Jig schloß die Augen und ließ den Kopf hängen. Aus seinem Abenteuer war jegliche Poesie und jeglicher Zauber gewichen. Die Handschellen hielten ihn gnadenlos an der Steineiche fest. Er konnte nichts mehr machen. Gerade noch mit den Beinen strampeln. Würde verteufelt ungemütlich werden, bis ihn jemand fand. Falls ihn jemand finden würde.
     „¡Socorro!“ schrie er. „¡Socorro!“
     Entmutigt hielt er inne. Niemand würde ihn hören! Und er hatte es sich selbst zuzuschreiben. Er war mutterseelenallein. Letztlich unberechenbare Fesselspielchen durfte man eben derartig nicht abziehen. So weit weg von menschlicher Nähe. Nun saß er unentrinnbar in der Patsche.

     In den Bücherregalen seiner Eltern hatte eine bebilderte Ausgabe der Grimmschen Märchen gestanden. Jig mochte sie sehr gern. Ebenso Tom, der Hans im Glück nicht nur sinngemäß nacherzählen, sondern Satz für Satz aufsagen konnte. Von den Brüdern Grimm gab es auch ein mehrbändiges Wörterbuch. Dort hatten Tom und er nachgesehen, wie Ausdrücke definiert wurden, die ihnen besonders gefielen. Zum Beispiel das Wort Fessel. Es bedeutete hemmendes Band. Das paßte gut zu Toms Lederriemen, und Tom hatte erläutert, jemand sei dann im Sinne von hemmen perfekt gefesselt, wenn er von sich aus, was immer er ersönne oder wie immer er sich anstrengte, die hemmenden Bänder nicht verändern und erst recht nicht loswerden konnte. „Vergleichbar ist“, sagte Tom, „in einem engen Wandschrank eingeschlossen zu sein. Wo man zwischen einer Unzahl Besen und Schrubbern unbequem stehend ausharren muß. Wir haben so einen. Da mußte ich schon mal rein.“
     „Wirst du schon sehen, wie ich dich ... hemme.“ Jig wußte nicht mehr, was genau er sich damals für Tom ausgedacht, oder woher er überhaupt den Mut genommen hatte, so großspurig mit dem von allen umschwärmten Jungen zu reden...
     „Bin echt gespannt darauf.“ Am liebsten hätte Tom gleich erfahren, was Jig mit ihm vorhatte. Dieser zarte Knabe verdrehte ihm völlig den Kopf. Wie irgendein Mädchen aus der Parallelklasse.
     Es war einfach schön, mit ihm zusammen zu sein. Mit ihm barfuß durch den Wald zu streifen. Manchmal Hand in Hand. „Damit du mir nicht abhaust, mein Kleiner!“
     Es ging ihm durch und durch, wenn Jig dümmlich erwiderte: „Werd’ mich gleich losreißen. Du holst du mich ja nie ein.“ Das stimmte. Ob barfuß oder in Turnschuhen, Jig war der schnellere Läufer. „Scheint so, scheint so, ich muß dich hemmen, Jiggy. Mindestens die Füße. Ich meine, weil ich mich ja mit dir verabrede, obwohl ich zu Hause helfen sollte. Und du spielst auf zickig und willst die Fliege machen.“
     „Bitte nicht schon wieder fesseln, Tom!“
     „Ach nein? Wirst du denn hoch und heilig versprechen, nicht abzuhauen?“  
     „Puh – versprechen tu’ ich gar nichts. Du bist der Stärkere. Also will ich wenigstens weglaufen, wenn’s mir paßt.“
     So oder ähnlich mündete das Geplänkel in Tätlichkeiten. Sie stellten sich gegenseitig ein Bein, wälzten sich auf den weichen Moospolstern und rauften. Unter Gekicher und Gejohle wurde Jig schließlich das Weglaufen mit Toms Lederriemen abgedreht. Oder Tom ergab sich, gebannt von Jigs blaugrauen Augen, die ihn furchtlos anblickten und in seinem Körper merkwürdige, unerhört neue Regungen auslösten. Vielleicht weil Jig sein erster Spielgefährte so richtig zum Anfassen war. Einer, der Fesselspiele so normal fand wie Kirschen essen. Den es einen Dreck zu kümmern schien, was zu den typischen Eigenschaften einen echten deutschen Jungen paßte oder eher abträglich war.
     Tom stieß Jig sanft in die Seite. „Diese Spiele müssen unter uns bleiben, hörst du? Es ist wie mit geheimen Riten. Man plaudert sie nicht aus. Ist dir das klar?“
     „Absolut.“ Bei aller Zuneigung für seinen neuen Freund war Jig insbesondere klar, daß des Kürschners Sohn, egal was sie je zusammen treiben würden, das Sagen hatte. Jedenfalls sollten sie sich jetzt losbinden. Bis zur Straße, die am Wald entlang führte, waren es nur noch hundert Meter.
     Aber Tom zog ihn ungestüm vorwärts. „Was is’n plötzlich? Schämste dich, mit mir gesehen zu werden? Weil mein Vater nur Handwerker ist? Und deiner was Edles?“
     Mit Tom durfte ihn alle Welt sehen. Nur nicht so. Er als Gefangener. Er nach Kampf und Niederlage eines Schwächeren, von Tom abgeführt. Auf Gerichtsfotos waren Gefangene meist mit der rechten Hand an ihren Bewacher gekettet. Man nahm wohl an, die meisten seien Rechtshänder, und der Protest einer linken Gefangenenhand konnte von einer rechten Polizistenhand leicht niedergebügelt werden. Selbst befreien konnte der Gefangene sich nicht. Der Beamte hatte den Schlüssel in irgendeiner der vielen Taschen der Uniform. Er würde es schwer haben, sich von Tom zu befreien, denn er wußte nicht, an welcher Windung zu ziehen war, um die Schlingen zu lösen. Zöge er an der falschen Windung, würde die Schnürung gleich noch enger.
     „He!“ Tom stieß ihn kräftig mit der Schulter. „Haste jetzt doch Bammel, Jiggy!?“
     „Gar nicht“, log Jig. Gerade hatte eine Frau sie erstaunt gemustert, und als sie an ihr vorbei waren, verstummten ihre Schritte. Also war sie stehen geblieben und starrte ihnen nach.
     Am Bordstein hielt ein Wagen. Ein Uniformierter stieg aus und stellte sich ihnen in den Weg. „Ach nee wirklich“, sagte er zu Tom. „Schleppst du Raufbold wieder mal einen Gefangenen ab!?“
     „He, Onkel Paul“, sagte Tom mit belegter Stimme. „Ist nicht so, wie du denkst. Ein Schulkamerad. Wir hatten nur was ausprobiert.“
     „Ausprobiert. Aha...! Mach ihn los, Tom, aber dalli!“
     Tom gehorchte. Den Lederriemen rollte er hastig zusammen und stopfte ihn Jig in die Hosentasche. „Wär’ mir recht, Onkel, Paul, wenn du nicht breittrittst, was du so siehst.“
     „Ich sehe, was ich sehe. Breitzutreten brauch’ ich’s nicht. Schätze, du kriegst sowieso den Arsch versohlt. Hättest mit Vater zum Großhandel fahren sollen. Aufladen helfen. Mal wieder vergessen, wie?“
     „Puh! Hatt' ’ne Verabredung mit Jig. Hätt’ ich die nicht eingehalten, hätt’ ich von ihm mächtig was auf den Arsch gekriegt.“
     „Du spinnst ja!“ Onkel Paul musterte amüsiert Jigs schmale Gestalt. Von oben bis unten. „Für Vater überleg' dir besser eine glaubhafte Entschuldigung.“
     Der breitschultrige Mann öffnete ein dreieckiges Etui am Gürtel und zog blitzblanke Handschellen heraus. „Hände auf den Rücken, Tom. Aber ein bißchen dalli!“
     Jig traute seinen Augen nicht. Er hatte gedacht, das mit den Handschellen, von denen Tom in der Klasse öfters mal behauptete, er könne damit spielen, wann immer er wolle, sei pure Aufschneiderei.
     „Aber Onkel!“ protestierte Tom. „Das kannst du doch nicht machen! Ich bin doch nicht dein Untergebener.“
     „Nee, du bist bloß mein Neffe. Außerdem mein Patenkind. Das schließt die Aufgabe ein, mich um dich zu kümmern.“ Der Mann von der Bundeswehr drehte Tom unsanft die Arme auf den Rücken und hantierte geübt mit den Handschellen. Tom war knallrot geworden. Er schämte sich vor seinem neuen Freund.
     „Los, Junge!“ sagte Onkel Paul zu Jig. „Hau ihm eine runter! Hat er verdient.“
     „Ist wirklich anders, Onkel, als du denkst“, protestierte Tom. „Wir haben bloß...“
     „Hör schon auf! Ich weiß, wie du mit schwächeren Bengeln umspringst. Deinem Freund hast du mit deiner Wildheit ein riesiges Loch in die Hose gerissen. Wird bei ihm zu Hause allerhand Ärger geben.“
     „Selber schuld“, maulte Tom. „Kann ja ’ne Lederhose anziehen, wenn er weiß, daß wir im Wald rumtollen werden.“
     „Knall ihm eine, Junge! Genau die, die dich zu Hause erwartet.“
     Jig begriff, daß Tom in seiner Familie offenbar den Ruf eines rücksichtslosen Raufbolds hatte. Wenn er diesen schlechten Leumund nun gewissermaßen nicht bestätigte und sich weigerte, zuzuschlagen, würde er vor Onkel Paul als Feigling dastehen. Oder der Mann in Militär-Uniform würde sie beide möglicherweise verdächtigen, im Wald Dinge zu treiben, die echten Jungs tatsächlich nicht würdig waren. In gewisser Schadenfreude holte er weit aus. Pitsch! Er wunderte sich, wie kräftig er zuschlagen konnte.
     Toms Kopf fuhr zur Seite. Verdutzt sah er Jig an. Normalerweise hätte er sich die schmerzende Wange gerieben. Was nun nicht möglich war. Bevor er von Onkel Paul ins tarnfarbene Auto verladen wurde, zischte er: „Das kriegste zurück! Mit Zinsen, Kleiner.“



     Prügel bekam Jig keine für das Loch in der Hose. Seine Mutter stopfte es, ohne viel zu fragen. Doch in jener Nacht quälten wilde Träume sein Gemüt. Er war wieder im Wald. An die Buche gefesselt. Stehend und mit verbundenen Augen. „Für eine zahl’ ich zehn zurück“, erläuterte Toms Stimme. „Hatt’ mir ja geschworen, ich bin großzügig zu dir.“ Die erste Ohrfeige riß ihn hoch. Da war nichts als sein stockdunkles Zimmer. Mit klopfendem Herzen legte er sich wieder hin und tastete nach dem Teddybär. Er nahm ihn in die Armbeuge und schmiegte das Gesicht an ihn.
     Wie war das Leben damals doch einfach gewesen! Mit einem Freund zum Liebhaben wie Tom. Den er jetzt, hätte er einen Zauberstab, herbeihexen würde. Statt eines Zauberstabes stand ihm nur seine schwache Stimme zur Verfügung. Die niemanden herbeihexen würde.
     „¡Socorro!“ krächzte er. „¡Socorro!“ versuchte er es noch mal lauter. Wie ein aberwitziger Versuch vor sich selbst, seinem Willen zum Durchhalten irgendwie Glaubwürdigkeit zu verleihen.

                                                          4
    
     Tagelang herrschte Funkstille zwischen den Jungen. Tom schämte sich für die Art und Weise, wie sein Onkel ihn gemaßregelt hatte. In Handschellen nach Hause abgeführt, vor Jiggys Augen! Er fühlte sich bei seinem neuen Freund unten durch und vermied es, ihn anzusehen. Es war schmachvoll gewesen, daß Jig ihn geohrfeigt hatte. Wie ein Großer. Obwohl Jig an der Kletterstange im Turnunterricht nie über die Zwei-Meter-Marke hinauskam. Weder schaffte Jig einen schneidigen Klimmzug noch einen vollen Umschwung am Reck. Plumpste runter wie tropfendes Wachs. Lag zusammengekrümmt da, sich verzweifelt zwischen die Beine greifend.
     „Tut dir was weh?“ fragte der Sportlehrer.
     „Nein, Sir“, jaulte Jig.
     „Bist du sicher, daß dir nichts weh tut?“
     „Ja, Sir.“
     Der Sportlehrer musterte ihn mit unbewegter Miene. Es war offensichtlich, daß die Reckstange Jigs Eier geplättet hatte. „Dann steh endlich auf! Und sag’ nicht pausenlos Sir zu mir. Oder willst du mich veralbern?“
     „Entschuldigen Sie, Sir!“
     Von Jig wußte man, er mußte seinen Vater mit Sir und in der dritten Person anreden. Wie es gemäß einem Kodex distinguierter Familien in England oder Frankreich Brauch war. In Deutschland wirkte es eher ungewöhnlich. Doch Jigs Vater arbeitete als Dolmetscher bei den britischen Besatzungstruppen, da mochte Old England abfärben. Tom vermutete stark, Jig habe zu Hause über ihn gequatscht, und dessen Vater habe ihm logischerweise den Umgang mit einem Bengel untersagt, dem nur in Handschellen Manieren beigebracht werden konnten. Es war einfach blöd gelaufen. Jig würde sich wohl ersatzweise an den Klassensprecher ranmachen, statt einer körperlichen eben eine geistige Krücke suchen. Denn Friedhelm war der Beste in Englisch und Mathe. Das paßte zu Jigs fabelhafter Deutschzensur wie ein Arsch auf den Nachttopf. Tom sah seine Vermutung bestätigt, als er die beiden in einer Pause erspähte, zusammen kichernd wie alte Vertraute, verschämt wie frisch Verliebte den Blick zu Boden richtend. Dabei legte der stämmige Friedhelm dem schmalen Jig die Hand auf die Schulter, als wollte er ihn verhaften, braten und verspeisen. Es war unglaublich! Tom wandte sich mit finsterer Miene ab.
     Es galt, einen Plan auszuarbeiten, der vorsah, beide in den Wald zu locken und zu verprügeln. Tom konnte es leicht mit beiden aufnehmen und sie zu Boden gurken. Damit würde er es nicht bewenden lassen und ihnen handfest vorführen, wozu dünne Lederriemen gut waren. Aber wie er es auch drehte, die Einzelheiten fügten sich schlecht zusammen. Jig würde sich nicht zwingen lassen, Friedhelm zu fesseln. Wenn Onkel Paul ihm die Handschellen für einen Nachmittag überließ, konnte er die Jungs zwar zusammenketten, in einer niedrigen Baumgabelung, und ihnen die anderen beiden Hände hinter dem Rücken zusammenschnüren, so daß sie dastehen mußten wie bestellt und nicht abgeholt. Aber – würde er es fertigbringen, Jig zu schlagen? In Jiggys feines Gesicht mit dem lieben Lächeln reinhauen wie in einen Feuermelder? Nie! Und den Schleimer Friedhelm konnte er, verdammt noch mal, nicht ausstehen. Er würde sich kaum überwinden können, ihn überhaupt anzufassen. Mit blutleeren Angebern wollte er nichts zu tun haben. Friedhelm gab mit seinem Vater an, der im Stadtrat saß, ein Akademiker! Daß er, Tom, als Sohn eines Handwerkers wegen grober Verfehlungen eher vom Gymnasium flöge als Friedhelm oder Jiggy, dessen Vater auch ein Studierter war, sah er glasklar. Auf das Kunststück, zwei Jungs in einer Baumgabelung gefangenzuhalten, die zu eng war, um durchzuschlüpfen, konnte er stolz sein. Mit einem einzigen Paar Handschellen. Den Plan in die Tat umzusetzen, würde ihm närrisch gut gefallen. Allerdings waren die Folgen unübersehbar. Bis auf einen Punkt. Sein Hintern würde die Bekanntschaft mit einem von Vaters breiten Gürteln erneuern. Satanische Diener, die jedesmal herablassend fragten: Kennen wir uns schon? Nein –? Macht ja nichts, das nächste Mal erinnerst du dich bestimmt. Na, dann wollen wir mal... Und schön stillhalten. Damit wir besser zielen können. ...Zatsch!!
     Jig war nicht entgangen, daß Tom offensichtlich nichts mehr mit ihm am Hut hatte. Gequält fuhr er sich mit der Zunge gequält über die trockenen Lippen. Ach, würde doch Tom vor ihm stehen! Mit seinem Lederhosengürtel. Und dem üblichen Angebot: ‚Hose runter und ein Dutzend auf den Po! Dann kommst du frei. Oder du hast ’n langen Nachmittag vor dir.’ Wenn es hier denn nur ein langer Nachmittag sein würde...!

                                                            5

     Ein einziges Paar Handschellen...! Knappe dreihundert Gramm Stahl hatten den Befehl über ihn, hielten ihn erbarmungslos gefangen. Hiebe auf den nackten Po? Hundert ertrüge er, würden die Stahlfesseln ihn nur laufen lassen. Mit Mengen hatte Tom stets übertrieben. Fünf Hiebe an einem Tag waren das abgesprochene Maximum gewesen. Schlug Tom so stark zu, daß die Striemen noch tags darauf zu sehen waren, konnte er sicher sein, daß sein Freund ihm nichts schuldig bleiben würde. Wie Geben und Nehmen regelten sich ihre Spiele von selbst.
     Ganz in der Nähe raschelte es. Wieder und wieder. Wohl ein Nagetier. Dann sah Jig, was es war. Ein mittelgroßer Vogel. Eine Elster. Gehörte zu den gescheiten Rabenvögeln. Sie mausten, was immer ihnen gefiel. Fuhren auf Blitzblankes ab. Vielleicht hatte das Tier die Handschellen blinken sehen. Verdammt! Womöglich würde es an den Schlüsseln Gefallen finden und sie quer im Schnabel in sein Nest tragen. Als Spielzeug für den Nachwuchs. Ohne Schlüssel, auch wenn er selber an sie nicht herankam, konnten Wanderer ihn nicht befreien. „Sch-scht“, zischte er so laut er konnte. Es zeigte Wirkung. Der Vogel flatterte davon. Erschöpft schloß er die Augen, lehnte den Kopf an den Stamm der Steineiche und ließ den Gedanken wieder freien Lauf.

     In einer der nächsten Deutschstunden gab es eine unerhörte Wendung. Während der Lehrer den Satz an die Tafel schrieb, „Ich mach’ mich nichts aus Gartenarbeit, weil ich mir nicht schmutzig machen will“, ploppte ein Papiergeschoß auf Toms Backe. Empört sah er sich um. Alle schauten angestrengt zur Tafel. Er entfaltete den Zettel. „Du darfst mich ja auch eine knallen. Aber schau mir bitte wieder an!“ Das schnörkelige J beglaubigte den Absender. Es durchrieselte Tom heiß. Noch schien Jig nicht ganz verloren. Er kratzte sich hinter dem Ohr. Pah, jeden konnte er zum Freund haben! Er hatte schon überlegt, sich bis zu den Ferien mit dem starken Lutz zu verbünden. Wer in dessen Schwitzkasten geriet, konnte froh sein, wenn er nicht bewußtlos gewürgt wurde. Lutz und er konnten die halbe Klasse in Schach halten. Leider steckte Lutz nicht nur in schmutziger Wäsche. Er stank fast immer nach Pisse. Vielleicht war bei ihm etwas undicht. Wieder durchrieselte es Tom warm. Jig duftete schwach nach Blümchenseife. Mindestens roch er ähnlich nach nichts wie eine Katze.
     Fünf Minuten arbeitete er an einer Antwort, bis er sie hinüber katapultierte: „Eine? Ich sagte, mit Zinsen! Macht zwei.“
     „Wenn’s denn sein muß...“, kam postwendend das Einverständnis.
     Tom ritt der Teufel, auf der Stelle herauszufinden, wieviel er Jiggy noch wert war. Er sandte eine neue Botschaft: „Nur an einen Baum gefesselt, Kleiner! Mit Händen und Füßen.“
     Diesmal bedachte sich Jig endlos. Tom befürchtete schon, er habe den Bogen überspannt. Doch schließlich sah er sich bestätigt: Jig konnte gar nicht anders, als ihn zu mögen. Wer aus der Klasse würde je auf Jigs Spinnereien eingehen, die ja auch seine eigenen waren. „Okay! Weil du es bist...“    
     Siegesgewiß schoß Tom die Vorladung zur Vollstreckung des Urteils ab: „Um drei am H. Enttäusch mir nicht! Sei pünktlich! Oder morgen wird dich der Hals nach hinten gedreht.“
     Doch die Papierpatrone prallte an der soeben hochschießenden Hand des Strebers Pixi ab und fiel auf den Boden. Der Lehrer hatte es bemerkt, entfaltete die Mitteilung und las sie grinsend vor. Dann sagte er: „So gut, wie ihr mitarbeitet, macht ihr mir richtig froh!“

     Nach dem Sonnenstand schätzte Jig, daß es halb drei war, als er am Hexenteich eintraf. Statt Tom kamen bald ein Mädchen und zwei Jungen. Einer hatte eine zusammengerollte Wäscheleine über der Schulter hängen. Hatte Tom sie vorausgeschickt, um den Freund für die Ohrfeigenstrafe vorzubereiten? Vorsichtshalber erhob er sich vom Felsen, auf dem er im Schneidersitz gewartet hatte, bereit zu flüchten.
     „Willste mit klettern?“ fragte der mit der Wäscheleine.“
     „Äh – nein. So was kann ich nicht.“
     „Haste gehört, Elli?“ Der Junge stieß das Mädchen an. „Mit Klettern hat er’s nich.“ Er schwenkte die Leine, als wollte er Jig einfangen, und kniff die Augen zusammen. „Dann schwirr ab! In der Fetzenhose kannste sowieso nich in die Felsen. Und Zugucker ham wa dicke!“
     Jig trollte sich. Mit Bergsteigern war offenbar nicht gut Kirschen essen. Er marschierte den Hang hinauf. Oben kannte er mehrere Stellen, wo man den Steinbruch überblicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Einer der Jungen stieg im spitzen Winkel des Hexenteichs, der an jener Stelle mit der Zeit ausgetrocknet war, über die treppenartig geformten Felsen auf. Oben befestigte er den Strick an einem Baum. Dann überwand das Mädchen, von der Wäscheleine fachmännisch um Taille und Schultern gesichert, die schwierigsten drei Meter. Als Jig sich durchs Gebüsch auf den Waldweg zwängte, ratschte eine daumendicke Brombeerranke ihm den bereits hauchdünn gesessenen Kordstoff am Hinterteil auf. Jetzt begriff er den Sinn von ‚Kannste sowieso nich in die Felsen.' Die drei Kletterer hatten Lederhosen an. Langsam lief er durch den Hochwald zurück in die Stadt. Nirgends eine Spur von Tom.
     Die Mutter kramte kopfschüttelnd eine Ersatzhose aus dem Schrank. Als der Vater nach Hause gekommen war, an dem Tag früher als sonst, rief er Jig und schalt ihn mild. Er hatte schon überlegt, wie dem Problem der ständig reparaturbedürftigen Hosen aus Manchesterstoff beizukommen sei. Vielleicht war der Kürschner nicht allzu teuer. Bislang hatten weder seine Frau noch er den Knaben überreden können, wie alle Jungen zum Spielen im Freien eine Lederhose anzuziehen. Der Kürschner mochte Argumente haben, die Jig überzeugen würden. Er nahm seinen Sohn gleich mit.
     Wohl hatte Toms Vater das Kürschnerhandwerk gelernt. Doch nun betrachtete er sich eher als Taschner oder Sattler. Denn Leder im Einmann-Betrieb herzustellen, lohnte nicht mehr. Er kaufte es fertig im Großhandel.
     Während er mit Jigs Vater verhandelte, nahm Tom seinen Freund beiseite und erklärte ihm, er hätte zu Hause den ganzen Nachmittag helfen müssen. Listig setzte er hinzu, die Ohrfeigen seien damit getilgt. Weil Jig ja an Ort und Stelle gewesen sei.
     „Woher weißt du das?“ fragte Jig mißtrauisch.
     „Ist doch logisch“, war die Antwort. „Hättest dir sonst nicht schon wieder den Hosenboden aufgerissen.“
     „Herr Elge“, sagte Toms Vater, „unsere Jungs haben sich angefreundet. Tom meint, Jig würde gern mal am Samstag bei uns übernachten. Vielleicht nächste Woche?“
     Jigs Vater musterte seinen Sohn erstaunt. Mal woanders zu übernachten, dazu hatte man Jig auch mit dem Lockmittel eines Extras zum üblichen Taschengeld bisher nie überreden können. „Gern“, sagte er. „Wenn es Ihnen keine Umstände macht.“
     Jig fühlte sich übergangen: Tom meint, Tom will, Tom wird mich unterbuttern... Fragte man gar nicht, was er wollte? Wollte er wirklich einen kostbaren Samstagabend mit Tom herumhocken, dessen literarische Interessen doch stark in Zweifel zu ziehen waren?
     Der Kürschner lachte. „Umstände? – I wo! Jungs in dem Alter sind ja schon sehr selbständig.“
     Tom umhalste Jig rauh. Er flüsterte ihm ins Ohr. „Beim Verlesen des Urteils verfinstert sich des Poeten Miene. Man wird ihn bei Brot und Wasser in einen schmutzigen Kerker werfen... He, Jiggy, bleib lieber zu Hause und spiel mit deinem Teddybär! Du hast doch gar keinen Mumm, mit mir zu spielen. Fesseln ist nämlich nicht getilgt. Willst du den ganzen Nachmittag verschnürt sein? Und nachts in meinem Schlafsack verpackt? Siehst du, jetzt kommt echt Bammel auf, Kleiner! Niederungen, nichts als Niederungen – des Poeten Miene erblicht.“
     „Erbleicht“, korrigierte Jig angerührt. Als blutleerer Poet abgestempelt zu werden, der seinen Teddy mehr liebte als einen Abenteuer versprechenden Jungen wie Tom, ärgerte ihn. Und auch, wie der von wortkarg auf Quasselstrippe umzuschalten verstand.

                                                          6

     Er seufzte schmerzhaft auf. Tom würde sich begeistert auf die Schenkel schlagen, sähe er ihn hier sitzen. Wie harmlos war es dagegen gewesen, mit verschnürten Gliedern und dem Kopf voran in seinem Bundeswehrschlafsack zu stecken, auch dieses Ausrüstungsstück ein praktisches Geschenk von Onkel Paul. Wo es aufregend vertraut ein klein wenig nach Toms Füßen gerochen hatte, Toms Jungenparfüm, das unterstrich, wer das Sagen hatte. Hier würde er frohlocken: „Haste Scheiße gebaut, Kleiner, woll –?“
     „Woll, woll, Tom. Sauber Scheiße gebaut!“ Jig warf einen traurigen Blick in die Baumkrone. Am Abend würde er buchstäblich mit vollen Hosen dasitzen. Auf was immer er sich bei dem Rauhbein Tom hatte gefaßt machen müssen, Übles war nie drunter gewesen. Und stand ein dringendes Bedürfnis an, wurde man gemäß den Spielregeln losgebunden.
     Im Wald gefiel es Tom, mit zusammengeketteten Füßen in die Büsche zu watscheln. Danach wurde wieder genauso verpackt wie zuvor. Unter Toms Fuchtel, erinnerte sich Jig, allerdings jedesmal ein Jota fester. „Damit deine Sextanerblase für Pinkelpausen das Haushalten lernt. Ich bin doch nicht dein Affe!“

     Am verabredeten Samstag in der Zehn-Uhr-Pause hatte Tom gesagt: „Mitzubringen brauchste nichts. Kriegst ’n Schlafanzug von mir. Zahnbürste auch. Um drei gibt’s bei uns Kaffee und Kuchen. Danach gehen wir zum Hexenteich.“
     „Warum nicht gleich zum Spielen rauf in den Wald?“
     „Weil wir erst ’n kühles Bad nehmen, Mann. Ich will mir ansehen, wie du schwimmst. Ob du’s überhaupt bringst.“
     „Schwimmen mit dir? Verstehe! Mit einem schweren Stein am Fußknöchel. Ist ja gleich, wo du mich gefangen setzt. Und piesackst“, sagte Jig.
     Tom blies sich sein langes Haar aus den Augen. „Mannomann! Du und dein Bammel! Wenn du kneifen willst, sag’s gleich. Dann lad’ ich mir jemand anders für heute ein.“
     „Quatsch. Ich freu’ mich drauf!“ Aber ganz wohl war Jig nicht. Zumal Tom ihn mit schräggelegtem Kopf feierlich anlächelte. Als ob er raffinierte Manöver im Schilde führte und sie in Vorfreude genoß.
     Zunächst hatte Tom an etwas Praktisches gedacht. Nachdem er Jig in sein Reich geführt hatte, ein kleines Zimmer unter der Dachschräge, hielt er ihm eine Lederhose entgegen. „Papa sagt, die alte von deinem Bruder enger machen, das lohnt nicht. Ist genauso aufwendig wie ’ne neue nähen. Grad’ hab’ ich eine gekriegt. Die hier könnt’ ich wohl noch anziehen, aber irgendwie ist sie mir zu eng. Für dich kein Problem. Du hast es ja in Leder gern eng.“ Tom lachte spitzbübisch. Gleich zog er ein Knäuel Lederschnur aus der Hosentasche und entwirrte es. Dann hieb er Jig den dünnen Riemen über die nackten Schenkel. Erst am Vorabend hatte er diese Lehrlingsarbeit spiralförmig aus einem Stück Abfalleder ausgeschnitten und dann gemessen – unglaubliche dreieinhalb Meter lang! „Den Riemen hab’ ich extra für dich gemacht. Für deine unruhigen Hände. Einmal fest verschlungen, kriegst du den von allein bestimmt nicht los. Dazu kommen wir später. Jetzt probier’ erst mal die Lederhose an.“
     Jig wußte nicht, wie er Tom seine Ablehnung möglichst höflich kundtun konnte. „Äh – Tom, das ist mächtig nett! Aber ich hab’s nicht so mit Lederhosen. Die kann man ja nicht waschen. Meine Eltern, also... die wollten mir schon oft –“
     Weiteres Erläutern wurde Jig abgedreht, indem Tom ihm den Mund zuhielt. „Weißte, Jiggy, ich kann dir auch gleich die Pfoten zusammenbinden. Du bist so einer, den man zu seinem Glück zwingen muß, kommt mir vor. Los jetzt! Zieh deine löcherige Murkshose aus und die Lederne an! Oder willst du’s auf die rauhe Tour? Dann steck’ ich dich eigenhändig rein.“
     Das wollte Jig keineswegs. Die rauhe Tour würde Tom ohnehin bald abziehen. Hastig zog er sich um. Dann war er erstaunt, wie prima die Hose saß. Daß Tom sie vorher getragen hatte, verwirrte ihn allerdings. Verlegen versenkte er die Hände in den Taschen. Auch die waren aus Leder. Dann fiel ihm Elli ein, das Mädchen mit den langen semmelblonden Haaren. In ihrer knappsitzenden Lederhose hatte sie aufreizend martialisch ausgesehen, eine Amazone aus der Griechischen Sage. Zu schade, daß sie ihn mit der Wäscheleine nicht gefangen genommen und rauf in den tiefsten Wald verschleppt hatte. Ihre Jungs hätten doch ohne sie klettern können. Wahrscheinlich taugte er als Junge nicht einmal zum Gefangennehmen. Wie sagte Tom gleich...? Überlegend schloß er die Augen. In löcheriger Murkshose!
     Tom hatte inzwischen im Schrank nach einem Gürtel gekramt. „Träumste schon wieder, Jiggy?“ Um ihn herumtanzend, zog er den Gurt durch die Schlaufen im Bund, rückte die Lederhose in der Taille zurecht und schnallte – ratsch! – den Gürtel zu. Jig kam sich vor wie eine Schaufensterpuppe. Einen Schritt zurücktretend, musterte Tom seinen Freund. „Na? Siehste gleich viel frischer aus, Jiggylein! Wie einer, der weiß, wo’s langgeht. So kann ich mir mit dir sehen lassen.“



     Bei Kaffe und Kuchen lernte Jig Toms Eltern kennen. Die Mutter fragte ihn über die Schule aus. Ob Tom im Unterricht wirklich so vorlaut sei? Davon war Jig hinlänglich überzeugt. Schien ihm aber klüger, es zu verneinen.
     Der Kürschner schaute anerkennend auf die Lederhose. „Das nenn’ ich Freundschaft, wenn Tom die so einfach rausrückt. Steht dir prima, Junge!“ Er selbst trug lederne Kniebundhosen, speckig vom jahrelangen Gebrauch. „Fühlst du dich wohl damit?“
     Jig bejahte. Er war vom Hosentausch seltsam berührt. Als hätte er plötzlich ein Stück von Toms Haut auf dem Körper. Daß er sich tatsächlich pudelwohl fühlte, lag vor allem an der frischen Erdbeertorte mit süßer Sahne. Außerdem war er ja zu einem erklärt worden, der wußte, wo es lang geht. Nach der köstlichen Torte würde er mit Toms neuem, entzückend langen Lederriemen Bekanntschaft schließen. ,Bitte, Tom! Heute mit den Händen vorn!’ ,Meine Trickknoten ausspähen, was? Das würde dir so passen! Arme auf den Rücken! Wird’s bald?' ,Tom, bitte...!’ ,Hör auf zu winseln! Und starr bloß nicht um Hilfe bettelnd meinen Vater an. Der hilft niemandem, den ich in der Mangel habe.’ ,Wetten, daß er mir hilft?’ ,Denkste! Jungs wie dich hat der dicke. Weil sie sich nicht wehren. Sich zu wenig behaupten. Der legt dich glatt übers Knie. Du schließt Bekanntschaft mit seinen ungemein starken Kürschnerhänden. Und dann ab in die Besenkammer.’
     „Zum Abendbrot gibt es Kartoffelsalat und Bockwurst“, sagte Toms Mutter. „Um sieben. Wer unpünktlich ist, geht hungrig schlafen. Denkt daran!“
 
     Zunächst dachten die beiden Jungen nur an den freien Nachmittag. Sie marschierten los. Unterwegs zeigte Tom seinem Freund die Bundeswehrhandschellen. „Hat mir Onkel Paul geschenkt“, erklärte er. „Sind ausgemustert. Behauptet er. Kommen mir aber wie neu vor. Weil sie nicht den geringsten Kratzer haben.“
     Jig überlegte, was sein Vater sagen würde, sähe er Schuljungs mit Polizeifesseln spielen. „Sind die für uns nicht zu groß?“
     „Nicht die Bohne! Bei dir müssen wir sie eben enger einrasten lassen. Wehrlos machen tun die dich jedenfalls wie einen Großen. Jiggy, ich sag' dir, is ’n sonderbarer Kitzel, so ’n Stahlkram umzuhaben!“ Tom verstaute die Handschellen in seiner Gesäßtasche. „Da, steck den Schlüssel ein. Nachher darfst du mich festnehmen. Drehst mir den Arm nach hinten und legst mir die Dinger an. Ich geb’ sie dir vorher.“
     „Warum nicht gleich?“ fragte Jig. „Hab’s gern, wenn die Schellen auf meinem Arsch rumklimpern.“ Tom schlug sich auf den Hintern. Es schepperte, als hätte er eine Ritterrüstung statt einer Lederhose an.
     Jig ging die Stellen mit gefesselten Händen durch, die er aus Büchern kannte. Jungs in Handschellen oder gar welche, die damit spielten, kamen nirgends vor. Eine Lücke, die Tom und ihn anspornen sollte, mit ausgefallenen Geschichten die Weltliteratur zu bereichern. Dort strotzte es vor Absonderlichkeiten, das machte das Bücherlesen so reizvoll. Was Tom und er gern hatten, maß man es am Alltäglichen, war ziemlich abgedreht und...
     „He, Jiggy! Schlaf nicht ein! Bringst du das überhaupt, mir den Arm zu verdrehen?“
     „Klar schaff’ ich das!“
     „Probier mal!“ Tom hielt Jig seinen rechten Arm locker hin. Und schrie auf.  
     Im Nu hatte Jig an Ellbogen und Handgelenk fest zugepackt und Tom den Arm auf den Rücken gehebelt. Er kickte seinem Freund das Bein weg, schmiß ihn zu Boden und ließ sich auf ihn fallen. „Wozu soll ich dich da noch fesseln? Bist auch so geliefert.“ Siegesgewiß kicherte er. Es war faszinierend, Tom so in der Gewalt zu haben. Mit Leichtigkeit konnte er ihm den Arm brechen.
     „Mann, langst du wild zu“, stöhnte Tom. „Wie man sich in dir täuscht! Jetzt laß’ endlich los. Und schneid dir gefälligst mal die Krallen.“
    
     Jig versuchte sich zu recken, so gut es ging. ,Halt still!’ befahlen die Handschellen. ‚Wir können noch fester kneifen, warte es nur ab!’ Der Schmerz in der Blase riet dazu, die Schleusen endlich zu öffnen. Unvermeidlich würde er sich in die nagelneuen Levi’s pissen müssen.
     Tom hatte ihn immer rechtzeitig losgebunden. „Leder hält viel aus“, hatte er erklärt. „Geht lange nicht kaputt. Aber durch Salzwasser wird es schadhaft, sagt mein Vater. Kriegt Risse. Deshalb mögen Lederhosen Pisse nicht.“    
     Mit ganzem Willen stemmte er sich gegen das dringende Bedürfnis. Aber das Fleisch war schwach und wurde immer nachgiebiger. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken. Gar nichts mehr konnte er verhindern. Ein warmer Quell ergoß sich zwischen die zusammengepreßten Beine. So begann es also, wenn man die Kontrolle über sich verlor.

     „Tom, ist das wahr, daß Verbrecher, nachdem man sie aufgehängt hat, noch pissen? Obwohl sie schon tot sind?“
     Des Kürschners Sohn rieb sich das Handgelenk und musterte die roten Kerben, die Jigs lange Fingernägel verursacht hatten. Zu raschem Seitenblick kniff er die Augen zusammen. Jig spielte nur scheinbar auf harmlos, auf unerfahren, auf – er wußte nicht, was noch alles. „Kann sein, daß was anderes rausläuft“, sagte er bedächtig.
     „So? Natürlich! Da gibt’s ja mehr Möglichkeiten.“ Jig patschte seinem Freund angeregt auf den Hintern. „Wird man zum Hängen gefesselt?“
     „Schwer, Mann! Hände, Füße... Meist noch an den Ellbogen. Wirst so schwach gemacht wie ein Wickelbaby.“ Tom zog sein Hemd aus und band es sich um die Hüften.
     Jig mochte Toms nackten Oberkörper. Er hoffte, er würde bald auch so aussehen. Jedenfalls muskulöser als jetzt. Mit ihrer Körpergröße hatte er sich getäuscht, Tom überragte ihn lediglich um zwei, höchstens drei Zentimeter. Größer erschien er nur durch seinen kräftigen Körperbau. Besonders groß, wenn er vorlaut war.
     „Schlinge – ratsch! – um den Hals, das Brett unter den Füßen wegziehen, und schon baumelt dein Arsch. Aber da spürst du schon nichts mehr.
     „Puh!“ sagte Jig. Wie sorglos sein neuer Freund ihn in der zweiten Person hinrichten ließ! Seinen Arsch! Als ob er als Verurteilter in den letzten Augenblicken seines Lebens für die Schergen nur noch als Arsch existierte. Das Wort gehörte in die Kategorie der Kraftausdrücke. Zu Hause hieß es Po oder Hintern. Manchmal in nicht gerade erhellender Umschreibung Allerwertester. Wenn er sich mal besonders mutlos gab, weil am nächsten Tag eine Klassenarbeit fällig war, von der er annahm, er würde sie verbimsen, mahnte sein Vater: „Kneif die Hinterbacken zusammen, und nichts wie durch!“ Vielleicht würde ihn „Kneif deinen Arsch zusammen!“ mehr anspornen, ein Ausdruck, der Kraft gab. Natürlich mußten seinem Vater auch schlüpfrige Wörter als Übersetzer vertraut sein, doch schien er sie zu meiden wie die morastigen Stellen im Sumpfwald, wo sie Hand in Hand nach dem Dauerregen warmer Tage Birkenpilze und Täublinge suchten. Arsch aus Toms Mund klang vor Kraft strotzend. Wie der zischende Hieb seiner Lederriemen über die Beine.
     Am Hexenteich saßen bereits zwei Jungen. Sie waren noch naß vom Schwimmen und vertrieben sich die Zeit bei einem Steinchenspiel. Mit Drall ins Wasser geworfene flache Kiesel hüpften mehrmals auf der spiegelglatten Oberfläche, bevor sie versanken. „Ach nee!“ rief der eine. „Kürschners Lederbengel mit einem frischen Gefährten! Wie immer ist er in die Sorte Benjamin vergafft.“
     Tom trat langsam näher an sie heran und ballte die Fäuste.
     Jig ließ seine Blicke herumflitzen. Er kannte Tom schon gut genug, um zu sehen, daß ihm bei der Benjamin-Bemerkung nicht ganz wohl war. Unschlüssig schien sein Freund zu überlegen, ob der angesetzte Wassersport wegen Überfüllung des Badeplatzes wohl besser zu verschieben sei.
     Die Schwimmer tuschelten unverständlich miteinander. Dann standen sie auf. Unternehmungslustig zogen sie die nassen Unterhosen zurecht. Unversehens warf sich der Größere auf Tom. Der andere verstellte Jig den Weg. In Sekunden waren die beiden Freunde überwältigt. Tom ging zu Boden, Jig wurde so gemein im Schwitzkasten gewürgt, daß ihm einen Moment lang schwarz vor den Augen war.
     Doch gleich setzten sich seine klaren Sinne wieder durch. ,Du mußt sofort handeln’, mahnten sie. ,Bevor die Strolche euch weiter verarbeiten!’ Jig fühlte, wie der Griff um seinen Hals schlaffer wurde. Sein Peiniger stand breitbeinig da. Jig schob sich fix in Position und knallte ihm das Knie tief zwischen die Oberschenkel. Der Junge ließ sofort von ihm ab. Aufjaulend sank er ins Gras.
     „Hau ab, Jiggy!“ schrie Tom. „Lauf'! Ich komm’ schon zurecht.“
     „Pitt, du Memme!“ rief der Große. „Laß das Würstchen ja nicht entwischen!“
     Aber bis der Getretene den gröbsten Schmerz überwunden hatte und sich hochstemmte, gewann Jig viel Vorsprung. Der andere spurtete hundert Meter hinter ihm her. Schließlich begriff er, daß er den Flüchtenden nicht einholen würde. Wütend fluchte er mit hocherhobenen Fäusten und drehte um.
     Als nichts mehr zu befürchten war, lief Jig in weitausholender Schleife zu seinem Lieblingsplatz oberhalb des Hexenteichs zurück. Von dort konnte er das Gelände überblicken, ohne im Schutz des dichten Unterholzes gesehen zu werden. Der alte Steinbruch wirkte wie ein Schalltrichter. An dem windstillen Nachmittag war jedes Wort zu hören.
     „Mann, wie kannste dich von ’ner halben Portion so austricksen lassen!“ Der Große schnaufte verächtlich. Er hockte auf Tom und preßte dessen Oberarme mit seinen Knien in den steinigen Boden. Tom war gegen das Gewicht und die starken Glieder des Fünfzehnjährigen machtlos. „Hab’ noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen, Lederbengel. Das weißte ja wohl. Kommste uns grade recht. Uns war schon langweilig.“
     „Scheiße auch, wenn ich deinen Freund erwische...“, zeterte Pitt. „Dem trete ich in die Eier! Bis er sich wünscht, er hätte keine.“
     „Den kriegst du nie“, sagte Tom. „Auch wenn ihr Feiglinge zu zweit auf einen losgeht. Jig ist viel zu fix für euch. Und anders als ihr hat er Köpfchen.“ 
     „Aber dich ham wir! Hörste das, Rob? Was der für ’ne Lippe riskiert? Was machen wir mit ihm?“
     „Ins Wasser schmeißen! Was sonst?“ Der große Junge lachte. „Mit gefesselten Flossen. Damit er’s nicht zu sehr genießt. Oder uns womöglich auch noch durch die Lappen geht. Haste Schnur mit, Pitt?“
     „Glaub’ nich.“ Pitt vergewisserte sich, daß er keine mit hatte. „Egal. Kürschners Sohn hat ’n Gürtel um. Der geht genauso.“
     „Dann zieh ihm das Höschen aus und schnall’ die Füße zusammen“, befahl Rob. Er rutschte auf Toms Oberkörper weiter vor, verstärkte den Druck auf die Arme und vereitelte jeden Widerstand des Gefangenen mit einem brutalen Griff in seinen Haarschopf.
     Tom schloß angewidert die Augen. Wie schmachvoll, in solcher Position zum Stillhalten verurteilt zu sein! Mit schmutziger Unterwäsche genau vor der Nase. Es sollte noch schmachvoller kommen.
     „Na so was! Kiek mal da – der hat keine Unterhose an!“ „Da schmeißen wir ihn eben nackig ins Wasser!“ Rob feixte. „Darfst ihm vorher in die Nüsse hauen. Sippenhaft nennt man das. Einer, den man in der Mache hat, büßt für den, der abgehauen ist.“
     Pitt durchsuchte Toms Hosentaschen. „Typisch Lederbengel! Schleppt lauter Riemenkram rum... Mann, damit können wir den wie ’ne Hexe von anno dicke Milch binden. Und zugucken, wie er brav untergeht.“ Plötzlich pfiff der Junge laut durch die Zähne. „Ich glaub’s ja nicht! Hat man da noch Töne? Echte Handschellen! Wie sie die Polente hat.“
     „Sag bloß!“ staunte Rob. „Zeig mal her!“
    Jig in seinem Ausguck hielt den Atem an. Was sollte er bloß tun, wenn sie ihn wirklich ins Wasser schmeißen würden? Wäre er an Toms Stelle, würde er nun echt Angst kriegen.
     Der sagte mit matter Stimme: „Fesselt mich, wie ihr wollt. Aber bloß nicht mit den Handschellen! Ich hab’ keinen Schlüssel.“

     Jig sah die Szene in der brütenden Nachmittagshitze deutlich wie damals vor sich. Er bäuchlings im Gebüsch liegend, Tom hilflos im Gras am Hexenteich. Ein Quälgeist auf ihm hockend, der andere albern herumtanzend. Mit Onkel Pauls Handschellen in der Faust. Die in der Sonne blitzten wie jetzt seine eigenen Stahlfesseln. Könnte er sie denn blitzen sehen. Höhnisch blitzend mit dem Spruch: ,Kommste grade recht. Uns war schon langweilig.’

                                                          7

     Sie waren noch da, kein Zweifel. Stählerne, die Beweglichkeit hemmende Schellen, die seine Handgelenke eng umschlossen. Rein technisch handelte es sich um die simple Konstruktion zweier per Kettenglieder miteinander verbundener Schnappschlösser in elliptischer Form. Ein Mechanismus analog zur Besenkammer, in die Tom gesperrt worden war. Zack! – zu war sie. Von innen nicht zu öffnen. Bei ihm zu Hause hatte es keine Besenkammer gegeben, und er wäre auch nicht eingesperrt worden, so wenig wie man ihn je geschlagen hatte. Die gewöhnliche Strafe war das Stillstehen in der dunkelsten Flurecke gewesen, eine Viertelstunde oder auch mal eine halbe, wobei er über seine Verfehlungen nachdenken sollte. Das äußerste Strafmaß setzte es für verbale Entgleisungen frecher und respektloser Art gegenüber seinen Eltern. Dann war er ohne Abendessen früher als sonst ins Bett geschickt worden, dies bei totalem Lichtentzug mittels heruntergelassenem Rouleau am Fenster und aus der Lampe geschraubter Glühbirne. Irgendwann hatte er entdeckt, daß diese Art staubtrockener Gefangenschaft mit dem Zusammenbinden der Hände eine wie Brausepulver prickelnde Zutat erhielt. Damit hatte ein unterhaltsames Spiel mit sich selbst begonnen, das nichts außer einer Kordel erforderte.
     „Tom, hat dich dein Vater zum Verhauen gefesselt?“
     „Sag mal – spinnst du?“ Tom hatte ihm an die Stirn getippt und dann die Hand wild schlenkernd gekühlt, als ob er sich verbrannt hätte. „Eltern dürfen doch ihre Kinder nicht fesseln! Das wäre ja... Freiheitsraub!“
     „Und was glaubst du, ist die Besenkammer?“ Darauf hatte Tom keine Antwort gewußt.
     In Handschellen stationäre Gefangenschaft am Stamm einer Steineiche gewählt zu haben, war ein Akt unüberlegter und unverantwortlicher Freiheitsberaubung gegenüber sich selbst. Seit er in nassen Hosen dasaß, wurde ihm klar, daß er in dieser Situation fraglos umkommen konnte. Vielleicht spielte der Kreislauf durch die unnatürlich gestreckten Arme gar nicht so lange mit, bis in zwei Tagen eine reale Chance auf Hilfe bestand. Es verwirrte ihn, daß beim Gedanken, das Nirwana rufe bereits zur Reise ohne Rückkehr, sein Schwanz erwachte und die Murmeln offenbar erwogen, eine Ladung abzuschießen, bevor denn alle Reizimpulse in den Nervensträngen gekappt würden. Oder es lag an den zu engen Jeans, Levis in 29er Größe. Tom hatte gleich intuitiv erspürt, daß er alles am Körper eng liebte. Seine kurze Lederhose hatte er zwei Jahre getragen, bis er in ihr als großer Junge von fünfzehn ein bißchen anstößig erschien. In Madrid sah man niemanden in Lederhosen. Shorts schienen kleinen Jungs vorbehalten. Jugendliche trugen auch an sehr heißen Tagen lange Hosen.

     Wie er Tom am Hexenteich zum ersten Mal nackt in Feindeshand gesehen hatte, war sein Freund ihm vorgekommen wie ein tapferer Indianerjunge aus den Lederstrumpf-Geschichten von James Fenimore Cooper. Vor zwei Angreifern, beide kräftiger als er, war es nur klug gewesen zu kapitulieren, und er, Jig, hatte genauso klug abgewartet, was geschehen würde, ohne sich zu zeigen.
     Pitt fand schnell heraus, daß man zum Anlegen der Handschellen gar keinen Schlüssel brauchte. Er teilte es seinem Spießgesellen mit. „Damit machen wir ihn fertig. Aber schnür ihm zuerst die Füße zusammen!“ befahl Rob. „Nicht mit dem Gürtel! Mit so ’nem Riemen da.“ Dazu brauchte Pitt nicht lange. „Haste das richtig fest verknotet?“ „Au weia!" bestätigte Pitt. „Hat der lange dran zu kauen.“ Endlich erhob sich Rob von seinem Gefangenen und riß ihn rüde hoch. Gleich wurde Tom ein Arm so grob auf den Rücken gedreht, daß er den anderen vorsichtshalber von selbst nach hinten legte.
     Jig hörte das scharfe metallische Klicken der Fesseln. Ein kleiner Schubs von Rob genügte, und schon lag Tom wieder im Gras. Die beiden Jungen zogen ihr nasses Unterzeug aus und streckten sich einige Meter abseits von ihrem Gefangenen aus. Sie tuschelten und kicherten. Jig hatte noch nie drei völlig nackte Jungen auf einem Haufen gesehen. Zu seiner Überraschung spürte er Neid. Sogar einen gewissen Ärger auf Tom, der in diesem Abenteuer trotz seiner Hilflosigkeit eine aktive Rolle spielte, während er zum bloßen Zuschauer degradiert war. Obwohl Rob und Pitt mit nassen Haaren und unbekleidet ganz anders aussahen als eine Woche zuvor – sie waren es, die mit Elli, der Amazone, dagewesen und in den Felsen rumgestiegen waren. Die Wäscheleine hatten sie heute nicht mit.
     Nach einer Weile schlüpften Rob und Pitt in Hemd und Hose und schnallten ihre Jesuslatschen an. Rob sagte: „Wir machen jetzt die Fliege, Lederbengel. Streng dich an, dann wirst du die Füße schon flottkriegen. Und komm besser nicht auf den Gedanken zu petzen! Pitt und ich ham gesehen, wie du dich selbst nackig ausgezogen und gefesselt hast. Als so’n Spinner würdste in deinem Verein ziemlich abgedreht dastehen, wenn wir das verbreiten.“ Rob hob warnend den Zeigefinger. „Ins Wasser schmeißen wir dich beim nächsten Mal. Wirste klarerweise auch von selbst rein plumpsen. Kann übel enden, so was.“ Hämisch lachend weideten die beiden sich an dem Gefangenen.
     Jig sah Tom wieder und wieder den Kopf schütteln. Sagen tat er nichts. Er wartete einfach ab, bis die Unholde gingen. Schien dann zu lauschen, ob sie tatsächlich die angekündigte Fliege gemacht hatten. Schließlich setzte er sich schräg auf, stützte sich mit einem Ellbogen ab und schob die gefesselten Arme über Hintern und Hüften. Beim ersten Versuch, sie auch über die Füße zu kriegen, fiel er auf die Seite. Beim nächsten Anlauf schaffte er es.



     Jig betrachtete hingerissen diesen Trick. Geräuschlos verließ er seinen Zufluchtsort und überzeugte sich in Spähermanier, daß die Luft rein war. Die Turnschuhe baumelten um seinen Hals. Der Junge war stolz darauf, barfuß über Stock und Stein so rasch vorwärts zu kommen wie andere auf ebenem Boden. „O Mann!“ rief er Tom entgegen. „Ich dachte schon, die schmeißen dich wirklich ins Wasser. Und ziehen dich erst halbtot wieder raus.“
     Fast streng erwiderte Tom: „Damit droht man nur. Tun würden das selbst solche Arschlöcher nicht.“ Aber er war sich nicht sicher, ob Feiglinge von der Arschlochsorte Rob und Pitt es nicht doch tun würden. Nur so zum Spaß. Erinnernd bewegte er die gefesselten Hände. „Los, rück den Schlüssel raus!“
     Sein Freund zog theatralisch den Kopf zwischen die Schultern und neigte den Kopf zu Boden „Ähm – ist affenblöd! Ich weiß nicht, wie ich’s dir beibringen soll. Den hab’ ich verloren. Und ich fürchte, ich weiß nicht, wo.“

     Jig blickte in die lichterfüllte Baumkrone der Steineiche und stöhnte hoffnungslos. Die winzigen Handschellenschlüssel waren wie Springflöhe im Flohzirkus. Im Grunde gehörten sie selbst in Ketten gelegt. Verzweifelt rüttelte er mit aller Kraft an den eigenen. Wie um sein Gezappel zu bestrafen, klickte es. Die Schelle um die rechte Hand war schon zu eng gewesen. Nun hatte sie noch einen Zahn zugelegt und machte richtig Druck. Sarkastisch überlegte er, wären die Bügel scharf wie Messer, würden sie bei weiterem Zuschnappen irgendwann die Pulsadern aufschneiden. Dann bliebe ihm gerade noch so viel Zeit, ein Dankgebet für sein kurzes, aber wundervolles Leben zu sprechen. Ganz zuletzt würde er wütend den Hinterkopf gen Himmel recken und seine grenzenlose Blödheit verfluchen.
     ,Sitz ruhig!’ mahnte die eine Handschelle. ‚Oder wir müßten dir ernsthaft weh tun.’
     ‚Ein germanischer Zappelphilipp’, sagte die andere. ‚Die haben Quecksilber im Po.’
     Er hörte sein Herz laut klopfen wie den weit entfernten Specht. Sich mit Handschellen die Pulsadern aufschneiden, würde nicht klappen. Handschellenfabrikanten waren keine Meuchelmörder. Aber vielleicht könnte er durch ständiges Gestrampel körperliche Überanstrengung inszenieren und das Herz außer Takt bringen. Bis es gewissermaßen den Faden verlor und verwirrt still stand. Dann brauchte er sich nicht tagelang völlig sinnlos von einem stählernen Geschwisterpaar foltern zu lassen. Denn rechtzeitig finden würde ihn niemand.
     Ihm kam vor, in der Nähe gluckerte es beständig, ein Geräusch, das er zuerst nicht wahrgenommen hatte. Von einer Quelle? Gleich wurde ihm bewußt, daß er panisch durstig war. Er hatte beim Frühstück nur ein Glas Wasser zum Kaffee getrunken, viel zu wenig gegenüber dem, was er normalerweise trank. Weil ihm über der Gier, möglichst zügig zu seinem Abenteuer zu kommen, der gesunde Hausverstand abhanden gekommen war. Auch am Hexenteich gab es eine Quelle. Sie sprudelte im Winkel, wo man Klettern üben konnte. Allerdings verkam sie bei längerer Trockenheit zu einem Rinnsal. Zum Haare waschen reichte es kaum. Tom hatte immer davon gefaselt, ihn darunter an die bloßliegenden Wurzeln einer verkrüppelten Kiefer zu fesseln. Die Wasserfolter. Aber dazu war es nie gekommen, und Jig fragte sich, ob Tom dort nicht viel lieber selber mit Händen und Füßen festgebunden worden wäre. Um herauszufinden, wie lange er der Wasserfolter stand hielte.

     „Hör’ ich richtig?“ sagte Tom ärgerlich. „Ich vertraue dir was an und du verlierst es?“
     „Ja, Sir. Guter Rat ist teuer! Der Schlüssel ist futsch.“ Jig machte sich an Toms Füßen zu schaffen. Die Knoten in den Riemen waren fest verschlungen und hart wie Kirschkerne.
     Tom sah seinen Freund entsetzt an. „Soll ich etwa in Handschellen nach Hause latschen?“
     „Äh – tja ...“ Jig hatte sein Schweizer Taschenmesser aufgeklappt, um den Riemen zu zerschneiden.
     „He!“ rief Tom. „Benutz gefälligst deine langen Krallen und knüpf das auf! Glaubst du, ich schnitze eine halbe Stunde ’ne echt schöne Lederschnur zurecht, damit du sie kaputt schneidest?“
     „Ist ja schon gut“, sagte Jig beschwichtigend. Die Knoten gaben beim zweiten Versuch leichter nach, als er gedacht hatte. Er klappte das Messerchen zu und steckte es wieder ein. “Huch!“ rief er. „Da ist ja der Schlüssel! Mir schien zuerst, da wäre ein Loch in der Hosentasche...“
     Tom musterte seinen Freund argwöhnisch. „Jetzt schlägt’s dreizehn! In meinen Lederhosen, alt oder neu, gab es noch nie Löcher. Du willst mich verarschen, was? So wie du die beiden Feiglinge verarscht hast. Hab’ ich mir gleich gedacht, daß du da oben lauern würdest.“
     Verarschen... Noch nie gehört. Nach den gegebenen Umständen erfaßte Jig den Sinn. Seine Mutter sagte: vergackeiern. Es bedeutete, jemanden an der Nase herumzuführen.
     „Jiggy, mich hat was gestochen. Tut höllisch weh. Wohl ’ne Biene. In der linken Pobacke. Sieh mal nach, ob der Stachel noch steckt.“
     ,Ach du meine Güte!’ dachte Jig. ,Toms Hintern anfassen dürfen! Welcher Vertrauensbeweis!’ Und nachher war er stolz darauf, den Stachel entfernt zu haben, ohne daß er abgebrochen war.
     Endlich kamen die Jungen zu ihrem Badevergnügen. Überraschend für Tom war Jig der bessere Schwimmer. Ohne Angst vor Wassernixen, die sie in die Tiefe ziehen mochten. „Ich spiele Nixe“, gurrte Tom. „Laß dich in meinen Armen betören.“ Mit Leichtigkeit zwang er seinen Freund in den Schwitzkasten.
     Aber Jig entwischte gleich wieder. Flink schoß er um Tom herum. Bis er dessen Kopf zwischen seine Schenkel klemmte. Eisern hielt er ihn unter Wasser fest.
     Tom wurde die Luft knapp. Unwillkürlich schlug er um sich, bis Jig zufrieden kichernd von ihm abließ.
     Sie ließen sich in der heißen Nachmittagssonne trocknen. „Wie man sich irren kann. Du hast allerhand drauf“, sagte Tom anerkennend. Sein Respekt vor dem Kleinen wuchs. „In so ’ner Beinschere kann man ersaufen, weißt du das überhaupt?“
     „Oder das Genick gebrochen kriegen.“ Jig lachte. „Du liest zu viele schlechte Bücher. Deshalb denkst du gleich an so was.“
     „Weiß nicht, weiß nicht“, sagte Tom. „Ich hab’ dich einfach unterschätzt.“ Sie lagen nebeneinander auf dem Bauch und schauten sich in die Augen.
     „Kann mich schon wehren“, sagte Jig. „Bin aber lange nicht so stark wie normale Jungs.“
     Der ruhige Blick, mit dem Jig seine Aussage bekräftigte, machte Tom verlegen. Er wandte den Kopf zur Seite und stellte fest: “Du hast auch keine Unterhose an!“ „Ist ja nicht deine Erfindung“, erwiderte Jig vergnügt. Er wollte mit seinem Freund gleichziehen. Möglichst in allem. Seit er herausgefunden hatte, daß Tom nicht ein ganzes Jahr älter war, sondern grade mal dreieinhalb Monate.
      Als sie sich anzogen, fragte Jig: „Wollten die vorhin einfach nur raufen? Oder hatten sie mit dir tatsächlich ein Hühnchen zu rupfen?“ Ihn erstaunte, daß Tom den Überfall so gelassen hinnahm und keinen Kommentar abgab. Vielleicht, weil bei Geländespielen der Pfadfinder solch rauhe Methoden gang und gebe waren und zwei Jungs auf einen losgehen durften, sobald es darum ging, Gefangene zu machen. Er schob nach: „Die waren gestern schon hier. Mit einem Mädchen. Hatten sie da auch auf dich gewartet?“
     Das Thema behagte Tom nicht. Zwei Blödmänner hatten ihn vor den Augen seines neuen Gefährten tief gedemütigt. Und würden es womöglich aufbauschen und rumquatschen. Gequält fuhr er sich durchs Haar. „Das weißte ja – mein Vater führt ’ne Pfadfindergruppe. Ich bin dabei. Rob war es auch, bis vor kurzem. Vater hat ihn rausgeschmissen.“
     „Warum?“
     „Na ja – er hat Schweinereien gemacht.“
     „Was für Schweinereien?“ Tom seufzte. Sein ersehntes Ziel war, Jig die Pfadfinder schmackhaft zu machen. Rob und dessen Stiefellecker Pitt waren Störenfriede in diesem Plan. „Schweinereien eben.“
     Jig sah forschend zur Seite. Aber Tom drehte den Kopf weg. Also besser nicht tiefer bohren. Ihm war aufgefallen, daß Tom sich kaum gesträubt hatte, als Rob auf ihm drauf saß. Er hatte die Sportskanone Tom oft mit anderen Jungs in der Klasse raufen sehen, auch mit Stärkeren. So gelassen eine Niederlage hinzunehmen, paßte nicht in das Bild. Ein geradezu entspannter Tom. Als hätte es ihm irgendwie Spaß gemacht. Vage blitzte in seinem Verstand eine Verknüpfung auf: Es konnte mit etwas zu tun haben, was man nicht tat, Rob mit einem wehrlosen nackten Körper unter sich aber eben doch. Tom mochte wissen, was genau – er, Jig, hatte nicht einmal einen Schimmer, um was es gehen mochte. Vielleicht sollte er mehr schlechte Bücher lesen. Solche, von denen seine Mutter zu sagen pflegte: „Literatur, die an das Niedere im Menschen appelliert.“ Schien nicht ganz uninteressant, das Niedere. Eigentlich faszinierten Rob und Pitt ihn. Vielleicht grade, weil sie beim Raufen mit Gemeinheiten punkteten.
     „Jig!“ mahnte Tom. „Wir sind nun ganz unter uns. Gehen wir wieder zur Tagesordnung über.“ Diesen Satz benutzte sein Vater vor der Gruppe, wenn ein außergewöhnlicher Punkt besprochen und abgehakt war, und die Formulierung gefiel Tom.
     „Was –?“„Hattest du nicht versprochen, dich heute fesseln zu lassen?“
     „Ich? Wieso ich?“
     „He – weil du mich vor Onkel Paul geohrfeigt hast wie ein Preisboxer! Schon vergessen?“

     Hatte er das vergessen gehabt? Er wußte nur noch, irgendwie hatte ihm da oben am Hexenteich der Schwung gefehlt, Versprechen einzulösen, wenigstens vorübergehend. Im Hier und Jetzt verspräche er hoch und heilig, Handschellen auf ewig nie wieder anzurühren, ja nicht mal anzusehen, würden die Zwillinge Llama aus dem Baskenland ein einziges Mal in ihrer stählernen Existenz eine Ausnahme machen und ihn, allen physikalischen Gesetzen zuwiderlaufend, freilassen, wie immer sie es anstellten. Bei einem abnormen Bruch der Sperrklinke könnten sie sich mit einem Materialfehler herauswinden, ohne ihre Autorität zu verlieren. Mit Señora Steineiche würde er sich wegen des Mietpreises für die verflossenen Stunden schon einig werden.
     „¡Socorro!“ Kein Ruf wie Donnerhall. Trotzdem lauschten die Vögel einige Momente, bevor sie ihr Geschnatter fortsetzten. Auch der Specht, der nun in der Nähe tätig war, legte eine Pause ein. Dann hämmerte er gleichmütig weiter. Die Handschellen kicherten. ,So ein netter Junge! Kann einem fast leid tun. Sich mit uns Ludern einzulassen...’ Jetzt hörte Jig das Glucksen ganz deutlich. Vielleicht war leichter Wind aufgekommen, der das Geräusch der Quelle herübertrug.

                                                           8

     „Tom, du verwechselst da was. Versprochen hab’ ich nichts. Weder letzte Woche noch heute. Ich hab’ vorhin lediglich gefragt, ob man zum Hängen gefesselt wird.“
     „Eben. Hab’ ich dir lang und breit erklärt. Du sagtest: Möchte gern wissen, wie sich das anfühlt.“
     „Nee, hab’ ich nicht gesagt! Ich laß’ mir doch nicht die Luft abwürgen! Mir reichen schon deine heftigen Schwitzkästen. Wo du’s drauf anlegst, daß mir schwindlig wird. Damit du leichtes Spiel hast.“
     Während dieses Disputs waren sie um den Hexenteich herum zur Quelle gegangen. Nach den Regenfällen der letzten Tage sprudelte sie üppig. In Tom stieg Bitterkeit auf. Heftige Schwitzkästen... Das saß! Alle trampelten auf ihm rum. Weil er kräftig war und damit was anfing. Enttäuscht sagte er: „Ich merk’ schon, du willst nicht. Hast wieder Schiß vor mir.“ Er stopfte dem verdutzten Freund die Handschellen in eine Hosentasche, den Schlüssel in die andere. „Bin ja kein Unmensch, Jiggy. Geh nach Hause und spiel’ allein damit. Ich brauch’ jetzt Bewegung! Ablenkung von einem Windlicht wie dir.“
     „Aber Tom –“
     „Hör schon auf mit deinen Abers! Mir so den Nachmittag zu versauen... Verschwinde! Hau ab!“ Behende kletterte Tom über die Felsvorsprünge empor. Ohne seinen Freund noch eines Blickes zu würdigen.
     Jig standen Tränen in den Augen. Was war in Tom gefahren? Was hatte er falsch gemacht? Er versenkte die Hände in den Taschen und trollte sich. Auch er mannhaft ohne Blick zurück.
     Auf halbem Weg des Klettersteigs gab es eine Nische in den Felsen. Tom hockte sich hin. Er schluchzte. Das Wochenende mit Jig hatte er sich anders ausgemalt. Zehn Tage erst kannten sie sich, und schon war alles in die Binsen gegangen. In die Binsen um den Hexenteich. Schuld war seine Spinnerei, Gott und der Welt Fesselspiele einzureden. Sein Vater würde blöde Fragen stellen, wenn er ohne Jig zu Hause ankam. Gewiß, Jig war ein feiner Pinkel. Dagegen war er ein ungehobelter Klotz. Kohle hatte Jigs Familie keine, aber Unmassen Bücher im Schrank. Meterlange Regale mit Wörterbüchern. Da konnte sich so einer immer rausreden. Er hatte das nicht drauf. Er verwünschte Jig. Der ihn zum Heulen brachte, als wäre er ein Mädchen. Lustlos überwand er den restlichen Aufstieg.
     Über dem Steinbruch ließ er sich ermattet ins Gras fallen und schloß die Augen. War total schlecht gelaufen, an diesem Nachmittag. Vielleicht konnte wenigstens der Abend was bringen. Falls es ihm gelingen würde, auf die Schnelle jemand anders zu überreden, bei ihm zu übernachten. Aus seiner Klasse fiel ihm niemand ein. Und die Burschen aus der Gruppe? Kamen sie wirklich aus freien Stücken zu ihm? Oder nur, um bei seinem Vater einen Stein im Brett zu haben? Der brachte die Kameraden nacheinander fürs Wochenende ins Haus, damit er sich abseits vom Pfadfinderleben ein Bild von ihnen machen konnte. Auch Jig kam offenbar wider Willen. Weil Sir Elge es angeordnet hatte. Konnte sein‚ Jig würde ihn verpetzen.
     ,Wie? Diese netten Leute laden dich ein, und du bist schon wieder da?’
     ,Äh – ja, Sir.’
     ,Was soll das, Sohn? Ich bemühe mich, dir den Zugang zu den Boy Scouts zu ebnen, und du...’
     ‚Sir, diese Rübe von Sattlerbrut, Tom mit Namen, hat mir die Pfoten zusammengekettet. Er wollte mich in den Hexenteich schmeißen. Konnte mich in letzter Sekunde, Sir, im Schweinsgalopp retten.’
     Zum Beweis würde Jig Handschellen samt Schlüssel vorlegen. Tom sah schon die Schlagzeile im Lokalblatt: ‚Dolmetschersohn entkommt fesselsüchtigem Lederbengel.’
     Etwas kitzelte an der Fußsohle. Unwillkürlich zog Tom das Bein zurück. Nach einer Weile kitzelte es am anderen Fuß. Und nochmals. Argwöhnisch setzte sich der Junge auf.
     Jig stand vor ihm, mit abwartendem, traurigen Lächeln. „Konnte nicht widerstehen“, sagte er. „Hab’ mir die Handschellen umgemacht. Jetzt kann ich sie nicht mehr runterkriegen.“
     Toms Wut zerstob augenblicklich zwischen Handschellen und Runterkriegen. Mehr noch, sein angesammelter Zorn schmolz vor Jigs anmutiger Gestalt wie ein Stück Margarine in den Bratkartoffeln. „Jeder kann das. Schlüpf’ eben durch“, sagte er rauh, obwohl es zärtlich gemeint war. „Hast ja bei mir gesehen, wie’s geht. Und ich hatte sogar die Füße gefesselt.“ Alles in ihm jubilierte. Der Tag schien noch nicht ganz versaut. Er stand auf und wischte sich Ameisen von Armen und Beinen. Dann sah er, was los war. Jig hatte sich eine Schelle über dem linken Ellbogen angelegt. In der anderen steckte die rechte Hand. Der linke Arm hing nutzlos herunter. „Mann, was dir einfällt!“ sagte Tom schwer entzückt. „Darauf bin ich noch nicht gekommen.“
     „So ’n Paar Handschellen hat’s in sich“, sagte Jig. „Eigentlich wollte ich mich an einen Baum fesseln, Arme nach hinten, Schlüssel in der Hosentasche. Klick, klick. Aber wie kommt man da wieder raus?“
     „Gar nicht“, sagte Tom. „Mach das besser nicht allein.“ Er befreite Jigs Ellbogen. „Mit mir als Wächter kann dir nichts passieren. Willst du’s gleich mal an deiner Eiche probieren.“
     Jig scharrte im Blaubeerkraut. „He, sieh doch...! Die haben ihre Wäscheleine vergessen!“
     „Wer?“
     „Rob und Pitt. Sind letzte Woche hier geklettert. Mit einem Mädchen.“    
     „Ach so –? Das war bestimmt Elli! Robs Schwester. Die ist okay. Hat ein Auge auf mich geworfen“, sagte Tom stolz.
     „Auf mich auch“, setzte Jig mutig dagegen.
     Ellis blaue Augen! So dicht war er dran gewesen, von ihr gefangen genommen zu werden. Wie hätte die Amazone ihn überrumpelt? Natürlich mit dem gefährlichen Speer! In seine Weichteile piksend, hätte sie ihm klargemacht, wer das Sagen hatte. ,Umdrehen und Hände auf den Rücken!‘ Zuerst hätte sie seine Hände sicher verschnürt, dann die Arme am Körper festgebunden und mit dem Rest der Leine die Knie gefesselt. Sie hätte solange fester gezogen und x-mal zugeknotet, bis er in entzückender Hilflosigkeit ihrem Willen ausgesetzt war, den unübersichtlichen Ausschreitungen eines Mädchens. Ganz nahe wäre ihr Gesicht dem seinen gekommen... ‚Küß mich, Murkshosiger!’ Dreimal hätte er sie küssen müssen. Das war in Hellas Vorbedingung gewesen, um nach gebührender Gefangenschaft eine Freilassung zu erwägen. Gewiß hätte sie seine löcherige Hose ganz in Fetzen gerissen und einen Teil davon als Trophäe konfisziert. Später hätte sie einen wichtigen Knoten am Ende des Stricks gelöst, damit er sich vor Einbruch der Dämmerung unter Aufbietung all seiner Geschicklichkeit befreien konnte. Dann hätte er warten müssen, bis es stockdunkel war, um sich, spärlich nur mit dem Hemd bekleidet, nach Hause zu stehlen. Doch Amazone oder nicht – hatten Ellis blaue Augen wirklich auf ihm geruht?



     Angesichts dieses verpaßten Abenteuers fragte sich Jig, ob Toms hellbraune Augen überhaupt noch auf ihm ruhten. Ob nicht der Befehl ‚Geh nach Hause spielen’ zwar für kurze Zeit aufgeschoben, aber weiterhin in Kraft war. Vielleicht war Tom zu bewegen, ihn ganz zurückzunehmen. Drei Küsse würden bei einem waschechten Jungen zweifellos das Gegenteil bewirken. Doch könnte er es mit sanftem Zwang probieren. Eine peinliche Befragung nach Art früherer Gerichtsprozesse, da der Befragte alles zusagte, damit es nicht mehr weh tat. Tom die Finger umbiegen, bis sie knackten. Ach, er mochte einfach nur wieder mal Toms Hände in seiner Hand haben, Hände, aus denen Kraft floß, die er dann in sich zu spüren glaubte. Er wollte Tom die Hände so eng fesseln, bis die Finger sich wie Würmer am Angelhaken hilfesuchend krümmen würden. Dann konnte er mit dem Erpressen eines Geständnisses beginnen. ,Ja doch, Jiggy, ja! Ich schenk‘ dir meine Hände. Werde künftig mit deinen vorliebnehmen. Nur... Bitte, bitte, laß meine Finger heil!‘ Jig durchmaß hingerissen seinen Einfallsreichtum. Welche Neigung zur Grausamkeit sich da in ihm auftat!
     „Tom, darf ich dich mit der Leine verschnüren?“
     „Was...? Ähm – mit Wäscheleinen hab’ ich’s nicht so.“
     Jig nickte. Nicht gleich entmutigen lassen! „Nichts gegen deine Lederriemen. Aber sie sind nun mal zu kurz für ein kunstfertiges und haltbares Zusammenlegen deiner aufmüpfigen Gliedmaßen. Ach, so gern wünschte ich dich meinen mädchenhaften Gewalttätigkeiten auszusetzen.“
     Klang wie Musik in Toms Ohren. So wie Jig Wörter in Bilder zu gießen verstand, war es kein Wunder, daß er in Deutsch eine Eins nach der anderen abräumte. „Ich war heut’ schon dran“, beschied er, um seinen Protest warm zu halten. „Außerdem ist der stinkende Rob auf mir rumgerutscht. Das Ferkel wäscht sich nie.“ Das sah Jig ein. Toms Zuneigung konnte er später immer noch ausloten. Er gab sich einen Ruck. „Also gut, Tom! Du darfst mich hängen.“

     Jig überlegte, ob man sich statt der Henkersmahlzeit ausbedingen könnte, Methode und Material der Fesselung zu wählen. ,Hab’ meine eigenen Handschellen mitgebracht, Sir. Die wollen mich so oder so um die Ecke bringen.’ Er stutzte. Phantasien zum Freitod hatte man in der Sturm- und Drangphase. Zwischen sechzehn und achtzehn. Ereilten ihn die Aussetzer in der Lebenslust nun spät mit Mitte zwanzig?
     Er legte den Kopf in den Nacken und blickte am Baum empor. Dort baumelte leider kein Strick. Denn es wäre barmherziger, sich so weit hochzustemmen, wie es seine Position erlaubte, und den Hals in eine bereit hängende Schlinge zu stecken. Dann den Kopf nach rechts und links und nach vorne beugen, so lange hin und her ruckend, bis die Schlinge sich zugezogen hätte. Ließe er sich dann fallen, wäre in Sekunden alles ausgestanden.
     Die Quälgeister hinter seinem Rücken, die er bestellt und bereits bezahlt hatte, konnte er nicht sehen. Er lachte gallig auf. Zu leichtfertig hatte er einen Vertrag für buchstäblich handfeste Folter unterschrieben. Die Rücktrittsklausel hatte ihn in falscher Sicherheit gewiegt: ,Der Servicenehmer darf den Vertrag solange widerrufen, wie er die zum Service erforderlichen Hilfsmittel mit den ihm überlassenen Schlüsseln unwirksam machen kann.’ Klang wie aus dem albernen Regelkanon, den Tom und er für ihre Spiele ausgeheckt hatten. Nein, er war kein Idiot. Doch war er durch zu lange Schulbildung und Überfütterung mit den schönen Künsten ein Träumer geworden, der morgens ein halbes Dutzend Tassen Kaffee brauchte, um der Realität des Tagesgeschäftes gewachsen zu sein.
     Gewiß, er, Jig Elge, war hinsichtlich seiner körperlichen Entwicklung immer ein Spätzünder gewesen. Der frühreife Tom hatte auf ihn in keiner Weise abgefärbt. Aber wieso, um Himmels willen, fing er gerade jetzt an, wie ein waghalsiger Halbwüchsiger an einen Baum gefesselt, Todesgefahr zu provozieren? Lebte er nicht vergnügt dahin? In einem interessanten Job verdiente er erstmals genügend Geld, so daß am Monatsende etwas übrigblieb. Tom raunte ihm zu: ,Weil du niemanden hast, der zu dir steht, reizender Jig. Im Bett keine Braut. Da liegt immer noch dein Teddy. Ist das für dich wahres Leben?’ Düster dachte er an Toms wahres Leben. Tom und seine unaufhörlichen Mädchengeschichten, von denen der Freund stets großzügig mit ausschmückenden Worten Einzelheiten zum Besten gab. Mit neunzehn hatte er geheiratet. Die Eltern hatten ihn nur widerwillig volljährig erklären lassen. Weil bereits ein kleiner Tom unterwegs gewesen war. Die Falle war mit unhörbarem Klicken zugeschnappt. Wenige Tropfen einer Tinktur, altbewährt wie die Welt, wechselten den Besitzer. Im simplen Aufeinander zweier Körper war ein ähnliches Schnappschloß wie die Sperrklinke in den Handschellen eingerastet.

                                                            9

     Er war nie dahinter gekommen, welche Phantasien den glühenden Jüngling Tom verstört haben mochten. Eine Vision hatte Tom im Alter von achtzehn so durch die Blume verraten. Als sie eines Abends nach Hannover gefahren waren, sich das Einpersonenstück von Samuel Beckett, Krapp’s Last Tape, anzusehen. Ein Einakter um einen erfolglosen, verschrobenen Schreiberling.
     „Weiß nicht, weiß nicht“, hatte Tom in der Pause überlegt, da sie mit einem Bier in der Hand im Foyer herumschlenderten. „Kommt mir vor, als hätte ich das schon mal erlebt. Das Chaos auf dem Schreibtisch, die vollgestopfte Bücherwand, das dauernde Gequatsche... Nur die zerknitterten Flatterhosen und der mottenzerfressene Pullover passen nicht. In Lederhose und kurzärmeligem Hemd würde der Typ gleich viel sympathischer wirken.“ Unverhohlene Vergleiche, auf ihn, Jig, abzielend. Daß er in der Schule einigermaßen glatt durchkam, legte Tom ihm als Strebern aus, Jig ein Streber, der für Mädchen keine Zeit hatte oder keine Zeit haben wollte. „Laß mich mal kurz ein Monodrama entwerfen, das drei Rollen in einer Person vereint: Richter, Henker und den Verurteilten. Im Grunde absurdes Theater. Becketts im Alltag erfolgloser Typ könnte es für sich ausdenken, sobald er das bedrückend stickige Zimmer mal satt hätte. Ich setze diesen – wie heißt er gleich?“
     „Krapp.“
     „Genau. Wir setzen Krapp in die zweite Person, damit es anschaulicher wird. Bitte...!“ Beschwichtigend hatte Tom die Hände gehoben. „Mit dir, mein Junge, hat das absolut nichts zu tun. Du bist zwar oft von ähnlich ermüdender Langeweile wie Krapp und dessen stundenlanges Gelaber, doch lebensmüde bist du nicht. Gut. Wo fangen wir an? Richtig...! Ort: Dunkler Wald. Zeit: Zwischen vor zweitausend Jahren und heute. Handlung: Die sinnlose Freiheit des Individuums wird gemäß dem Geist des Absurden durch den Kakao gezogen. Der einzige Akt beginnt mit dem umständlichen Knüpfen einer Schlinge mit Henkersknoten, wie ich’s dir beigebracht habe. So zum Einstimmen. Den Strick wirfst du über einen Ast, der dein Gewicht zweimal aushalten würde. Befestigt wird das andere Ende an einem entfernt stehenden Baum. Egal, ob dein eigener Henker oder nicht, die Festigkeit gehört pflichtgemäß überprüft. Klammere dich an die herabhängende Schlinge und mach einige Klimmzüge, dabei hin und her pendelnd. Die Länge des Seils ist äußerst sorgfältig zu bemessen. Nach Zuziehen der Schlinge um den Hals sollst du gestreckt dastehen müssen. Ohne Spielraum zum Rumhampeln. Weil es jetzt kein Spiel mehr ist. Du verliest das Urteil. Ein letzter Blick auf die Welt. Streif dir die schwarze Kapuze über und binde sie zu. Die Dunkelheit bereitet dich auf Ewiges vor. Du murmelst: „Eine Minute für letzte Worte.“ Kannst dir natürlich fünf Minuten gewähren, um wankelmütig zu erwägen, den ganzen Hokuspokus abzubrechen. Denn jenseits des Waldes wartet auf der Chaussee die Kalesche, die dich erneut in dein altes Leben zwängen würde. Noch könntest du die Kapuze wieder abstreifen, die Schlinge lösen, Knie und Füße losbinden... Aber du warst immer ehrlich zu dir und weißt, das Urteil ist von allen Instanzen geprüft und bestätigt worden. Es läßt keine weitere Berufung zu. Deine letzten Worte, mein Junge, sind von klassischer Größe: Wanderer, kommst Du nach Sparta, verkünde dort, Du habest mich stehen gesehen, wie das Gesetz es befahl. Nun legst du die Hände auf den Rücken. Das rechte Handgelenk steckt bereits in einer Handschelle. Jetzt die andere Hand – klick, klick. Schieb die Schellen von der Handwurzel weit hinauf über Elle und Speiche. Drücke sie knalleng zu. So, siehste so! Du sollst bis in die Knochen spüren, wie du das Urteil an dir vollstreckst. Die Fesseln lassen sich per Knopfdruck verriegeln. Wäre eigentlich überflüssig. Doch du bist bekannt für deine romantische Ironie, und das dünne Klicken des Riegels klingt wie Galgenhumor. Schlüssel hast du nicht mit. Wozu auch? Die gestrengen Scharnier-Handschellen erlauben keinerlei Gefummel. Hast du je näher erforscht, wie unser Skelett den Bewegungsradius der Arme hinter dem Körper einschränkt? Erinnerst du dich an meine kunstfertige Verschnürung deiner Hände im Hojojutsu-Stil der Samurai? Na –? Mit dem zwischen Hals und Handgelenken straff gespannten Würgeriemen, der jeden Befreiungsversuch buchstäblich erstickt hätte? Siehst du! Auf dem Rücken gefesselten Pfoten ist es anatomisch verwehrt, an die Schlinge um den Hals oder an die alles verdunkelnde Kapuze heranzukommen. Also gib deinen letzten Gedanken Auslauf in die Ewigkeit und vergeude sie nicht mit Gebettel auf Hilfe. An einer abgelegenen Stelle auf Godot warten? Lächerlich! Krapp hat längst begriffen, Godot gibt es nicht. Und niemand sonst wird kommen. Wird Krapp den Schneid haben, sich aus freien Stücken fallen zu lassen, bevor das Gestammel des Körpers einsetzt? Der naturgemäß seinen Willen zum Überleben kundtut? Wie auch immer, Jiggy –, irgendwann sacken dem Typ vor Entkräftung die Beine weg. Das ist so sicher, wie ich jetzt pissen gehen muß.“ Tom hatte in der Kneipe am Kröpke sein viertes oder fünftes Bier ausgetrunken und war aufgestanden. „Hoppla! Schon halb eins... Auf geht’s, mein Junge! Wir wollen doch nicht den letzten Zug in unser Provinznest verpassen.“

                                                          10

     Eine Stunde Fahrt mit dem Lumpensammler, gezogen von einer Dampflok. Ruß flog durch offene Fenster herein. Im Gedränge des überfüllten Zuges mußten sie den größten Teil der Strecke stehen.
     Als sie im heimatlichen Brackelstein über den Bahnhofsvorplatz gingen, war er, Jig, stehen geblieben und hatte Tom gebeten: „Sieh mir mal tief in die Augen!“ Blitzschnell und mit aller Kraft hatte er dem Freund eine gezwitschert. „Reizender Tom! „Mein Junge“ ist eine listige Umschreibung für mein Kleiner! Verbotene Worte, das weißt du. Den Lebenssaft hast du nicht für dich allein gepachtet.“
     „Oha, hast du einen Schlag drauf!“ Tom rieb sich die Backe. Er war erprobt im Nehmen. Und einsichtig war er auch. „Ich werde dich nicht wieder so nennen. Beim Bier lauf ich schnell mal über. Alte Zeiten und das alles, weißt du.“
     „Schon gut. War ein netter Abend. Gute Nacht.“
     „He!“ Tom ergriff ihn sanft beim Arm. „Magst du nicht ein paar Tage bei mir schlafen? Da doch deine und meine Eltern zusammen im Urlaub sind?“
     „Ja – warum nicht?“ Ihm hatte die Ohrfeige leid getan, obwohl sie berechtigt war. Denn dem von allen umschwärmten Tom gehörten Grenzen aufgezeigt.
     „Danke, Jiggy. Laß mich büßend in deiner Obhut die Nacht verbringen.“
     Er wußte noch, er hatte Toms Füße einzeln ans Bettgestell gebunden. Die gespreizten Beine zwangen dazu, auf dem Rücken zu liegen, auf den gefesselten Händen.
     Tom protestierte. „Das ist unbequem zum Schlafen.“
     „Von Schlafen war keine Rede. Du wolltest büßen, oder?“
     Der große Junge lamentierte weiter vor sich hin.
     Jig glaubte, ihn umschreibende Kraftausdrücke zu hören. „Tom, hör auf zu maulen. Sonst schlepp’ ich dich runter in die Werkstatt. Da gibt’s härtere Unterlagen.“
     „Bloß das nicht, Jiggy!“
     „Dann büße gefälligst schweigend, hörst du? Wie die Zisterzienser nach dem Abendgebet. Kannst ja auf der Seite liegen.“
     Mitten in der Nacht mußte Tom mal raus. „Schließ mir die Handschellen auf!“
     „Kommt nicht in Frage.“
     „Dann gib mir die Hände wenigstens nach vorn.“
     „Nichts da. Setz dich halt zum Pissen hin.“ Als Tom zurück tappte, hatte er ihn für den Rest der Nacht im Schlafsack eingeschnürt und war ins Bett umgezogen.

     Am nächsten Tag hatte er sich in der Schule kaum konzentrieren können. Er saß mit trockenem Mund da und stellte sich in wechselnden Bildern vor, wie Tom ihn zur Schlafenszeit überwältigen würde. In der Sportstunde quetschte er sich am Reck wieder mal die Murmeln und plumpste wie ein nasser Sack auf die Matte. Der hilflose Griff zwischen die Beine löste rohes Gelächter bei den Kameraden aus.
     „Der Elge will keine Kinder!“
     Die Schmerzen vergingen rasch. Dispensiert für den Rest der Turnstunde, legte er die Hände auf den Rücken und schwelgte in weiteren Phantasien.
     Sie hatten nach dem Abendessen den nagelneuen Fernseher erprobt, der nach einer Viertelstunde Nachrichten auf dem Testbild verharrte, zwei oder drei Bier getrunken und im Keller gemeinsam geduscht. Das lachende Mädchen auf dem Badehandtuch mit dem Finger im Mund hatte er als Omen zu wenig beachtet. Als er trocken gerubbelt war, klickten Onkel Pauls Handschellen. Um die Ellbogen.
     „Halt’ dich ruhig“, sagte Tom. „Sonst kneift es.“
     Aus der Werkstatt brachte er ein Stück schwarzes Leder und drehte es einladend vor seiner Nase. In der Tat roch es verführerisch.
     „Heute genäht“, erläuterte des Kürschners Sohn. „Sollte genau passen. Wir haben ja die gleiche Schädelform.“
     „Tom, ich will nicht die Kapuze, von der du gestern schon gefaselt hast. Ich will dich sehen.“
     „Hab’ dich nicht so...“
     Schwupp! – schon war sie über den Kopf gestreift. Ein Reißverschluß sirrte, und in Ohrhöhe wurde ein Riemen zugeschnallt.
     „Na, was siehst du noch?“
     „Nichts“, gestand er. „Nicht einen Lichtschimmer.“
     „Dann ist die Arbeit gelungen. So ’ne Dunkelheit macht einen schnell fertig, das wirste schon sehen.“
     „Gewiß. Das werden wir schon sehen, sagte ein Blinder. Krieg’ ich denn genug Luft?“
     „Klar doch, Mann. Durch zwei Öffnungen vor Mund und Nase.“
     „Trotzdem will ich dich sehen, Tom.“
     „Glaub’ ich dir sogar.“ Tom rüttelte am eng angelegten, dicken weichen Rindsleder. „Rausrutschen kannste da nicht. Und da bleibste jetzt drin!“
     Irgendwie wickelte Toms rauher Charme ihn wieder ein, wie er die Treppe hinauf geschoben wurde und um die Wendepunkte, von Toms Händen um die Taille dirigiert. Im Dachzimmer quietschte die Schranktür. Dann hieß Tom ihn ein Bein heben. Und das andere. Er bekam eine kurze Lederhose angezogen. „Wehe du klemmst mir den Schwanz ein.“
     „Angsthase.“ Tom zog die Reißverschlüsse zu und patschte ihm herzhaft auf den Po. „Bist ’n bildhübscher Bengel geworden, Jiggy. Nimmst nur keine Notiz davon, wie die Mädchen sich nach dir den Kopf verdrehen.“
     Des Kürschners Sohn legte ihn auf den Boden, fesselte seine Füße und steckte ihn in den Schlafsack. Dann verschnürte er die Handgelenke sorgfältig über Kreuz und entfernte die Handschellen um die Ellbogen. Den Schlafsack zog er über die Schultern und verknotete die Haltebänder. Tom packte seine Beine, schleifte ihn über den Parkettboden und die Schwelle.
     „Sorry! Heute wird vor der Tür geschlafen, Jiggy.“
     „Stell mich doch gleich in die Besenkammer“’, witzelte er. „Seh’ ja sowieso nichts.“
     Aber sein Freund lief bereits die Treppe hinab. Unten klimperten Schlüssel. Dumpf schlug die Haustür zu.
     In der halben Stunde, bis Tom wiederkam, hatte er sich zu befreien versucht. Natürlich nutzlos. Die Fesselspiele zwischen Tom und ihm waren von jeher einfachsten Mustern gefolgt, an Händen, Knien und Füßen, seltener an den Ellbogen. Der Hals galt als verbotene Zone. Mund und Nase waren tabu, Knebel verboten. Mit den dünnen Lederriemen umzugehen, beherrschten sie beide perfekt. Zu entwischen gelang äußerst selten. An der Kapuze war nur die totale Dunkelheit neu, denn die klare Sicht war oft mit Tüchern verhängt worden. Ihre Vorbemerkung zu den zwanzig Regeln für gefahrlose Gefangenschaft lautete: Eine Fesselung muß halten, was das Wort verspricht. Außerdem muß sie so beschaffen sein, daß der Gefangene keinerlei Schaden an Leib und Seele erleiden kann, auch unbeaufsichtigt nicht. Er, Jig, staunte noch heute darüber, wie zwei dreizehnjährige Schüler so etwas hatten formulieren können und auf der dünnen Basis eines Ehrenworts ihre Regeln gegenseitig ohne nennenswerte Übertretungen respektierten.
     „Himmel, wer ist denn das?“ fragte eine Mädchenstimme.
     „Äh – ein Kamerad von den Pfadfindern.“
     „Der schläft hier so? Mit einer Kapuze?“
     „Ja... Nein. Ich meine, der ist grade auf dem Meditations-Trip. Er kann uns nicht hören. Hat sich was in die Ohren gestopft.“
     „Wußte gar nicht, daß du noch bei den Pfadis bist.“
     Die Stimme hätte Jig aus hundert anderen herausgehört. Das leichte Lispeln... Tina! Aus seiner Klasse. Tina und Tom also!
     „Tja, nicht so richtig. Will sagen, nicht ständig. Wenn mein Vater im Urlaub ist, muß ich mich um die Jungs kümmern.“
     „Habt ihr auch Mädchen dabei?“
     „Nee.“
     „Wieso nicht?“
     „Ja, nun... Das läuft getrennt. Mädchen bilden eigene Gruppen. Also wenn du Lust hättest...“
     „Glaub’ nicht. Muß mich ums Abi kümmern.“
     Die Zimmertür fiel zu. Den Geräuschen nach schien man unverzüglich zur Sache zu kommen. Deutlich hörte er Tina: „Nur Petting, Tom! Ist das klar?“
     „Glasklar.“ Toms heisere Stimme ließ vermuten, er stelle sich sehr wohl mehr vor. Welcher Film lief hier ab? Es war unglaublich, daß Tom ihn zwang, den Lauscher an der Tür zu spielen.
     Nach einer Weile sagte Tina: „Warum holen wir den Jungen nicht rein? Ein flotter Dreier...“
     „Puh – nein, besser nicht!“
     „Wie alt ist er denn?“
     „Ähm... ja..., vierzehn.“
     „Ach so!“ Die entstehende Stille deutete wohl kaum hektische Aktivität an. „Wenn das alles war...“ sagte Tina. „Vielleicht ist dir heute nicht so danach.“
     „Heh – ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.“ Tom klang niedergeschlagen. Kleidungsstücke raschelten. Tinas Absätze klackten auf den Dielen.
     Quietschend ging die Tür auf. „Mach’ dir nichts draus. Deine Eltern sind ja noch eine Weile im Urlaub. Aber das nächste Mal leg uns bloß keinen Halbwüchsigen vor die Tür, Pfadi oder nicht.“ Tina war nach dem zärtlichen Beisammensein erstaunlich fix auf der Treppe. „Ich find’ allein raus. Bemüh’ dich nicht weiter! Und schneid’ dir mal die Fingernägel.“

     Jig blinzelte ins Licht. Tom hatte ihm die Kapuze abgenommen, versuchte mit Blödeln die Situation zu retten. „Da näh’ ich so ein schönes Stück und vergesse glatt die Schalldämpfer. Soll ich dich losbinden?“
     „Würde ich dir raten.“
     „Nein, nein, nein’, lamentierte der große Junge wenig überzeugend. „Was ist nur in mich gefahren?“
     „Will ich nicht ergründen. Tom – mich Tina so vor die Nase zu legen, ist ein ganz hinterhältiger Vertrauensbruch, weißt du das?“
     „Jiggy, nimm’s doch nicht gleich krumm! Bitte! Ich laß mir den Hintern versohlen. Oder mach alles, was dir sonst einfällt, aber...“
     „Ja, könnte dir so passen.“ Er hatte sein Hemd angezogen und die Schuhe und Tinas Formel nachgeplappert: „Bemüh’ dich nicht weiter! Äh – die Lederhose ist konfisziert. Ich finde meine Jeans nicht. Die Kapuze kannst du dir sonstwo reinstecken. Und vergiß nicht, die Fingernägel mal zu schneiden.“
     Als er die Haustür zuschlug, grinste er bereits über das Abenteuer. Die Frage, ob Toms Eltern es duldeten, daß er Mädchen mit in sein Zimmer nahm, war geklärt. Es lief nur in deren Abwesenheit. Ließ er sich von den Schönen der Nacht auch fesseln? Wohl kaum. Mädchen würden derart Absonderliches früher oder später ausplaudern, das hätte im Ort unweigerlich die Runde gemacht. Nein, er allein besaß die Erlaubnis, den stattlichen Burschen außer Gefecht zu setzen...

                                                          11

     „Hängen muß nicht heute sein.“ Tom musterte die Wäscheleine. Sie sah teuflisch überzeugend aus. Ob Jig wenigstens damit fachmännisch umgehen konnte? Gewissermaßen ersatzweise, da er weder von Leder noch von Handschellen einen Schimmer hatte. „Ähm – wenn ich’s mir recht überlege, hast du ja eben erst die stählerne Acht umgehabt. Also bin ich doch dran.“
     „Nein, bist du nicht! Ich hab’ mich zum Hängen bereit erklärt. Spielregel neun: Freiwilligkeit setzt Zwang außer Kraft.“
     Tom zog an der Leine, die Jig sauber aufgerollt hatte. „Nichts da! Regel acht steht davor: Wir sind abwechselnd dran. Warst Du nicht grade in Eisen gelegt? Ja oder nein?“
     „Ja... Aber ich poche auf ältere Ansprüche. Du wolltest mich bereits vor einer Woche hängen.“
     Tom mahnte: „Lüg’ nicht schon wieder so dreist! Schnur um den Hals legen hatten wir verboten. Regel siebzehn, hörst du? Null strangulieren!“
     Sie sahen sich verschämt in die nassen Augen.
     „Heulsuse“, sagte Tom.
     „Selber eine!“ konterte Jig und wischte sich verstohlen die Tränen ab.
     Nach dem überstandenen Zerwürfnis konnten sie gar nicht anders, als sich rauh zu umarmen, den andern umzuwerfen und auf dem weichen Waldboden zu rangeln, bis ihnen richtig heiß wurde. Tom ging zuerst die Puste aus. Jig gab ihm mit einem schmerzhaften Armhebel den Rest.
     „Puh, ich geb’ auf“, sagte Tom. „Laß bloß meinen Arm heil. Bestehst du auf der Wäscheleine?“
     „Was dachtest du?“, sagte Jig. „Streck’ dich! Oder es wird weiter gekämpft.“
     „Ich sag’ doch, daß ich aufgebe.“
     „Dann leg’ gefälligst die Pfoten über Kreuz!“ Jig schlang die Leine um die Handgelenke. „Bin gespannt, Lederbengel, ob du noch mal anfängst zu heulen, sobald du nichts mehr machen kannst.“
     „Tu’ ich schon nicht“, würgte Tom hervor. Ihm war tatsächlich wieder zum Heulen zumute. Vor lauter Glück. Jig thronte schwer auf seiner Brust. Sein Kopf klemmte zwischen Jigs Knien. Immer enger wurden die Hände zusammengeschnürt. Rammelfest! Ihm wurde schwindlig vor Wohlbehagen. Jiggy sah in der Lederhose unglaublich frech aus. Und energisch! „Ich nenn dich nie wieder Kleiner“, versprach Tom.
     „Möcht’ ich dir geraten haben“, sagte sein Freund. „Falls du glaubst, deswegen kommst du glimpflicher davon, bist du schief gewickelt. Hoch mit dir! Und jetzt – marsch, marsch!“
     Mit den Armen über dem Kopf wurde Tom an eine Eiche gestellt. Das gefiel dem Jungen weniger, obwohl er allerhand vertrug. Gipfel der Frechheit war das Büschel Brennesseln, das Jig ihm in die Hose stopfte. Empfindliche Teile quiekten empört auf.
     „Regel fünf: Keine Folter“, protestierte Tom
     „Ist es nicht“, konterte Jig und zog die Reißverschlüsse bis zum Anschlag hoch. „Brennesseln wirken wie Ameisenbisse. Die sind bekanntlich gut gegen Rheuma und so.“
     „Witzbold! Meine Oma hat Rheuma! Ich doch nicht!“ Tom beschlich der Verdacht, ein körperlich Schwächerer mit hellerem Verstand als seiner sacke ihn ein, zerpflücke seine Prahlerei eines echten deutschen Jungen. Auch wurmte ihn das Getuschel in der Schule: Der blonde Lederbengel fährt jetzt auf Schwarzhaarige ab. Wieso ließ er sich von Jiggy so leichtfertig fesseln? Bei Geländespielen der Pfadfinder hatte er sich freiwillig noch nie binden lassen. Er war derjenige, der anderen mit seinen famosen Lederriemen Respekt beibrachte. Ihn traf es selten, weil er dafür bekannt war, daß jeder, der ihn gefangenzunehmen versuchte, blaue Flecke davontrug. Was Jig so alles ausheckte, hätte Tom ihm einfach nicht zugetraut. „Für das Fuder Brennesseln kriegst du was auf den Arsch“, knurrte er. „Gleich hier an Ort und Stelle. Also bind’ mich besser nicht los.“



     „Losbinden? Wo ich mir so viel Mühe gebe? Erst zum Abendessen.“ Jig musterte seinen Freund. Tom konnte sich zwar locker am Eichenstamm anlehnen, stand aber unbequem gestreckt da. An den Fußknöcheln glitzerten tückisch die Handschellen. Oberhalb der Knie schnürte der neue Lederriemen Toms sonnengebräunte Schenkel zusammen. Mit mehreren Wicklungen Wäscheleine waren seine Hände gefesselt, die hilfesuchend über dem Kopf schwebten. Das Seil hatte Jig über den tiefsten Ast der Eiche geworfen und mäßig straff gespannt an einem anderen Baum befestigt. „Ha! Ich liefere dich in der Wäscheleine zu Hause ab. Das wird ein Spaß! Auch wenn wir dann beide was auf den Arsch kriegen.“
     Toms blaues Halstuch, Emblem der Pfadfinder, reizte Jig zu Mißbrauch. Er löste den Knoten, der den Stoff am Halsansatz zusammenhielt.
     „Hab’ ich dir erlaubt, mein Halstuch wegzunehmen?“ Gleich biß sich Tom auf die Lippen. Es wurde stets beschlagnahmt, war man von einem gegnerischen Stamm gefangengesetzt worden. Man konnte damit sogar geknebelt werden. Ob Jig das wußte?
     „Nehm’ ich ja nicht“, sagte Jig. „Kommt nur woanders hin.“ Er legte es passend zusammen und verband Tom die Augen. Mit fingierten Faustschlägen überzeugte er sich, daß sein Freund nichts mehr sah. „Ich geh’ wieder runter. Ins kühle Wasser. Puh – ist mir heiß!“
     „Verdammt, Jiggy! Erlaß’ mir die Brennesseln!“
     Jig lachte vergnügt. „Halt’ dich einfach ruhig. Spürst sie dann kaum.“
     Davon stapfend sorgte Jig für Geräusche, wie ein Nilpferd sie erzeugen würde. Trotzdem blieb er in Toms Nähe. Er sah, wie sein Freund herumstrampelte und versuchte, die Hände freizukriegen. Wegen der über dem Kopf gestreckten Arme würde er seine liebe Not damit haben.
     Tom glaubte es nicht. Alle Befreiungsversuche scheiterten. Zuletzt riskierte er eine schmerzhafte Übung, hing sich mit seinem vollen Gewicht auf, indem er die Beine anzog. Weil er hoffte, die Leine würde reißen. Aber sie schlang sich nur noch fester um seine Handgelenke. Mit einem Wehlaut streckte der Junge die Waffen. Nicht einmal die Augenbinde, den Kopf am Stamm scheuernd, wurde er los. Dabei ratschte er sich das Ohr an der rauhen Rinde blutig.
     Jig riß sich in der Nachmittagshitze wieder Hemd und Hose vom Leib. Er umwickelte die Hand mit seinem Taschentuch und riß eine in vollem Saft stehende Brennessel aus. Bedächtig stellte er sich breitbeinig auf. Langsam geigte er die ätzende Pflanze durch den Schritt. Unwillkürlich schloß er die Augen. Fuh...! Brannte wie Feuer. Besonders an den Murmeln. Tom mußte es genauso spüren. So war es in Ordnung. Jig wollte sein wie Tom. Er wollte alles so spüren wie Tom. Am liebsten stände er genauso gefesselt neben seinem neuen Freund. Und kämen Kidnapper, die Tom nur noch, verpackt wie er schon war, in einen Kohlensack stecken müßten und über die Schulter werfen, wollte er mit gekidnappt werden. Jig kniff sich nachdenklich in die Kinngrube. Wäre unintelligent! Toms Vater konnte Lösegeld zahlen. Seiner nicht. Man würde ihn als Arbeitssklaven in die Fremde verkaufen. Er schaute hinüber. Sein Freund schaukelte hilflos wie eine Vogelscheuche an der Eiche hin und her und probierte Sträflingsschrittchen in den Fußschellen.

     Tom hatte ihm für diese Art Hängen neidlos den Orden für die größte Gemeinheit des Tages zugestanden. Wobei echt gemein nur die Brennesseln gewesen waren. Eine Woche später hatte Tom ihn, appetitlich in Lederriemen verpackt, der Nachbarschaft von Ameisen ausgesetzt. Beim Weggehen hatte er ihm im Stil von Ach-was-mir-eben-noch-einfällt zugerufen, die rindsledernen Fesseln würden die Tiere zuletzt anknabbern.
     Für das im Grunde schlichte Spielchen im Steineichenwald von Robledo de Chavela würde Tom ihm den Orden für die einfachste Fesselung des Monats stiften. Weil ja Schlüssel dalagen. Trotzdem konnte er sich genausowenig befreien wie damals der unter der deutschen Eiche um sich selbst kreiselnde Tom, der in klarem Niedersächsisch gerufen hatte: „Hilfe! Hilf mir doch! Jig, du gemeiner Hund! Komm schon – über eine Mark Lösegeld laß’ ich mit mir reden.“
     Der gemeine Hund pfiff aufs Lösegeld. Er schnitt mit dem Taschenmesser eine Brombeerranke ab. Nicht ein Zweig knackte unter seinen Fußsohlen, als er sich lautlos zu Tom hinüber schlich und sich vor ihn hinkniete. Er formte den Mund zu einem breiten Spalt und stieß zischend die Luft aus. Schien echt zu wirken – Tom stand augenblicklich stocksteif da. Jig hatte eine ausgewachsene Ranke mit Dornen im Abstand einiger Zentimeter gewählt. Mit weiteren Zischlauten drückte er Tom zwei der Dornen in den Fußspann. Tom schrie auf und riß entsetzt hüpfend die zusammengeketteten Füße weg. Zischend sprang Jig in großen Sätzen davon.
     Von weitem rief er: „Tom? Alles in Ordnung?“
     „’ne Schlange hat mich gebissen. Mann, hierher! Schnell!“
     „Bin gleich da.“ Jig schlüpfte in Hemd und Hose. Sonderlich beeilen tat er sich nicht, seinem Freund Beistand zu leisten. Er riß ihm das Tuch von den Augen. „Gebissen? Wo denn?“
     „Da, Mann, siehst du’s nicht?!“
     In der Tat quollen zwei Blutstropfen hervor. Jig kniete sich zu einem Fußkuß hin. Theatralisch saugte er an der Blutung.
     „Hat gezischt wie ’ne Klapperschlange“, stieß Tom hervor.
     „Unsinn! Klapperschlangen zischen nicht. Die rasseln. Bei uns gibt’s keine. Glaub’ eher, das war eine Blindschleiche.“
     „Blindschleichen...“ Tom schüttelte ratlos den Kopf. „Die haben kein so breites Maul.“ Angstvoll starrte er auf seinen Fuß. „Du sollst mich losbinden, verdammt!“
     Jig löste den Strick, zog ihn über den Ast und entknotete Toms Fesseln. Auch die Fußschellen schloß er auf. „Tom! Außer Kreuzottern leben hier keine Giftschlangen. So ein breites Gebiß haben die auch nicht. Und sie sind sehr scheu. Vor herumtrampelnden Jungs hauen die schleunigst ab.“ Verbindlich lächelnd griff Jig nach der Brombeerranke auf dem moosigen Boden und verglich den Dornenabstand mit den roten Punkten auf Toms Fuß. „Schau her! Da wirst du reingeraten sein. Weil du so rumrappelst. Statt einfach still den Frieden des Waldes zu genießen.“
     Es dauerte eine Weile, bis bei Tom der Groschen fiel. Empört brüllend stürzte er sich auf Jig. Aber einen Jungen mit zusammengebundenen Knien abzuschütteln, wenn es Ernst wurde, war selbst für den wenig kampferprobten Jig kein Problem. „Mann, hast du mir einen Schreck eingejagt!“ sagte Tom in andächtiger Bewunderung, als Jig wieder schwer auf seiner Brust thronte. „Das schreit förmlich nach Rache.“
     „Dreh’ dich auf den Bauch!“ befahl Jig. „Arme auf den Rücken! Du wirst, wie bereits angekündigt, als Gefangener nach Hause marschieren.“

                                                         12

     Beim Abendessen ergründete der Kürschner vorsichtig, wie die Jungen miteinander ausgekommen waren.
     „Mit Jiggy“, sagte Tom mit leuchtenden Augen, „erlebt man an einem Nachmittag soviel wie andere im ganzen Jahr nicht. Der kennt jeden Winkel im Wald. Wir haben ’ne Menge Pilze gesichtet. Jiggy meinte, die wären nicht giftig. Aber schmecken täten sie auch nicht. Also ließen wir sie stehen. Über dem Steinbruch fanden wir eine nagelneue Wäscheleine. Wie hingezaubert. Wir sind dann runter zum Teich, schwimmen. Äh...“ Das Intermezzo mit Rob und Pitt verschwieg er lieber. „Ähm – Jiggy ist ein verdammt guter Schwimmer. Wenn ich mal in Seenot käme, sagt er, würde er mich rausfischen. Wie wir dann wieder trocken waren, haben wir ein bißchen gerauft und so. Da muß Jiggy noch aufholen. Er liegt zu schnell unten.“
     „Also war Tom kameradschaftlich, Jig?“
     „Ja, Sir. An sich schon.“
     Auf des Kürschners Stirn erschienen Falten. Er kannte das schnell mal die Fäuste zeigende Wesen seines Sprößlings, wenn der am Drücker war. „Was soll das heißen, an sich schon?“
     „Na ja, Sir – Tom hat...“
     „Hör mal, Junge! Laß bitte den Sir weg. Für dich sind wir Gerda und Alfred. So wie für unseren Sohn. Und du duzt uns, verstanden?“
     „Ja, Sir – entschuldige, Alfred...“
     „Raus mit der Sprache! Hat Tom dir weh getan?“
     „Nein, nein...“ Jig biß herzhaft in das mit Schinken belegte Vollkornbrot.
     „Aber –?“
     „Tja... Also, er hat mich am Boden... Wedelt dauernd mit der Wäscheleine rum. Weiß mein kleiner Jiggy, wozu die da ist, fragt er. Ich sage, zum Wäsche aufhängen, großer Tom. Und sonst? Keine Ahnung, sage ich. Vielleicht für Rettungsschwimmer. Tom wedelt weiter mit der Leine und meckert, nur im Gras rumliegen und sich nicht wehren und drauf warten, daß dem Stärkeren langweilig wird und er deine Zicken schluckt – von wegen! Ich werd’ dich fesseln. Das wird dir eine Lehre sein. Damit du dich künftig nicht so schnell streckst. Puh, mir läuft es kalt den Rücken runter... Das darfst du gar nicht, rede ich ihm ins Gewissen. Wo steht das geschrieben?, erwidert er. Und falls das irgendwo geschrieben steht, was kümmert’s mich? Mußt ja nicht mit mir in den Wald gehen! Wir hätten zu Hause Federball spielen können. Mit den Mädchen vom Nachbarn. Hier gilt das Gesetz des Dschungels. Ich sehe, er will Ernst machen. Also dreh’ ich mich auf den Bauch, verschränke die Hände drunter. Es bringt nichts. Er kitzelt mich so lange, bis ich locker lasse. Füh! – beim Auskitzeln läßt jeder locker! Gleich erwischt er einen Arm und hebelt ihn auf den Rücken. Damit bin ich geliefert. Den Dschungel kenn’ ich nur aus Büchern. Heut’ muß ich am eigenen Leib erfahren, wie es ist, fest verschnürt dazuliegen. Und umhergewälzt zu werden wie ein Lumpenbündel...“ Jig biß wieder vom Brot ab und genoß die gebannt auf ihm ruhenden Blicke.
     Gerda kicherte angeregt. Sie strich Jig beruhigend über den Kopf. „Unser Sohn meint das nicht so. Sicherlich ist er rauher als andere Jungs. Wer mit ihm spielt, sollte besser nicht aus Zucker sein. Aber er würde dir nie ernsthaft weh tun. Hat er doch nicht, oder?“
     „Nö! Bis auf die Brennesseln in der Hose. Er sagt, das ist meine Hose, da stopf’ ich rein, was mir paßt. Hättest sie ja nicht anziehen müssen, niedlicher Jig. Blöd gelaufen, lacht er mich aus... Tja, und er hatte auch Handschellen mit. Die bekam ich für den Rückweg angelegt. Wie ein Schwerverbrecher. Da muß man höllisch aufpassen, nicht über die tausend Wurzeln im Wald zu stolpern. Erst vor der Haustür hielt er mir den Schlüssel unter die Nase. Versprich mir, sagte er, daß du zum Abendessen dableibst! Und daß du dich danach wieder fesseln läßt. Andernfalls läuft es ohne Speis und Trank. Dann spazierst du gleich in den Kohlenkeller.“
     „Sag mal, spinnst du?“ wandte sich Alfred an seinen Sohn. „Heute war doch kein Geländespiel angesagt. Wo man nach Belieben Gefangene machen darf. Jig ist unser Gast! Zuerst mal dein Gast.“ Insgeheim klatschte er mächtig Beifall. Sein nicht gerade zimperlicher Lederbengel hatte diesem laschen Schlingel gezeigt, wie man auf Jungenart miteinander bekannt wird. Von ihm aus durfte er ihn weiter in die Mangel nehmen. Bis sein niedlicher Jig Leine zog. Oder sich wie ein Junge wehrte. Aber er würde ein ernstes Wort mit seinem Bruder reden müssen. Es war verfrüht, Tom mit Handschellen der Militärpolizei zu versorgen.
     Tom war fasziniert. Von Jiggy. Von dessen Erfindungskunst. Wie er aus dem Blauen heraus alles verdrehte. Offen schaute er seinem Vater ins Gesicht. „He, Alfred! Es war genau umgekehrt! Jig stellte mir ein Bein und schmiß mich zu Boden. Ich war es, dem wüst der Arm verdreht wurde. Bloß nicht aufmucken, dachte ich. Ungeübt, wie der beim Raufen ist, bricht er mir die Knochen. Jiggy hat mich hundsgemein gefesselt und an einen Baum gebunden. Die Handschellen benutzte er als Fußeisen. Siehste, so! Mein Nachmittag als Gastgeber.“
     Jetzt grinste Alfred säuerlich. Nachdenklich fuhr er sich durchs Haar. Wenn das stimmte – uih...! Von wegen niedlicher Jig! Allerdings war nicht zu erkennen, ob Jigs langer oder Toms kurzer Bericht glaubwürdiger war. Kopfschüttelnd sagte er: „Zumindest scheint ihr im Dschungel klarzukommen.“ Er musterte die Knaben. Jig legte Tom unbefangen den Arm um die Schultern. Der litt es schweigend und errötete sanft. Unmerklich nickte der Kürschner. Wie die Jungs nun einträchtig dasaßen, nahmen sie ihm die Entscheidung ab. „Jig“, sagte er, „bald sind Sommerferien. Unsere Gruppe fährt in die Lüneburger Heide. Magst du mitkommen?“
     „Puh – ich weiß nicht!“ Unbehaglich sah Jig das Lager vor sich, Zelte, Schlafsäcke, verbeultes Kochgeschirr aus Blech, eine Kolonne uniformierter Pfadfinder, einer trug den Wimpel voran... „Das würde mein Vater nie erlauben.“ Er sah Alfreds Blick auf sich ruhen wie den des Sportlehrers: ‚Tut was weh zwischen den Beinen?’ Nichts tat weh, wenn Toms Vater ihn so warmherzig anlächelte.
     „Hat er schon erlaubt, Jig! Wir tranken gestern abend zusammen ein Bier. Da hörte ich, ihr wollt für drei Wochen in den Schwarzwald. Dein Vater schob von sich aus nach, es wäre ihm viel lieber, wenn du mal unter deinesgleichen bist. So bot ich an, dich mitzunehmen.“
     „Das hat er gesagt?“ Jig fand es unglaublich. Seine Eltern verkauften ihn in die Fremde! Waren dreißig Silberlinge geflossen? War er soviel wert?
     „Ja. Nur müßtest du selbst entscheiden, was du willst.“ Tom faßte nach Jigs Hand auf seiner Schulter. „Mann, Klasse! Natürlich bist du dabei.“ Des Lederbengels eiserner Griff um den Arm, bevor die Handschellen klickten...

     Wieder einmal starrte er in die Baumkrone, als wäre von dort eine rettende Fee zu erwarten. Als Gegenleistung würde er sich ihr sofort hingeben... Es funktionierte ja mit Mädchen. Seinem Alter nach sollte es eher heißen, mit Frauen. Doch in die Zeugungsfalle zu geraten, davor hatte er eine Scheißangst. War ein Baby unterwegs, klickten wie bei Tom Handschellen ohne Durchschlag. Und ohne Schlüsselloch. Am Hochzeitstag wurden die Fesseln verriegelt. Nur bei Vorlage eines Scheidungsurteils half der Kettenschmied später heraus. Dafür waren ewig und drei Tage Raten zu blechen. Er hatte Frauen gern, aber noch keine gefunden, die ihm gefiel und so wenig wie er Kinder haben wollte. Manchmal sinnierte er, die Natur habe ihm eine Art drittes Geschlecht verliehen, in Richtung androgyn. Offen in jeder Beziehung, nur nicht für die Fortpflanzung.

     Tom hatte er im letzten Jahr wiedergesehen. Bei einem Bierabend im Rathauskeller. In anonymer Leere des Saals einander gegenübersitzend an einem klobigen Eichenholztisch. Die alte Vertrautheit hatte manchmal durchgeblitzt. Die Eltern lebten im Erdgeschoß des Hauses Trompeterstraße fünf, Tom mit Frau und Kind im ersten Stock. „Wer ist denn die Glückliche?“
     „Ah... Sie ist aus unserer Stadt. Ich glaub’ nicht, daß du sie kennst.“ Der Name war nicht erwähnt worden, hingegen der Verbleib von Onkel Pauls Handschellen. Sie hingen vereinsamt in der Werkstatt. Hoch oben an einem Nagel. Unerreichbar für den kleinen Tom.

     ,Üble Geschichte!’ raunte die linke Handschelle. ,Können einem leid tun, die Kollegen. Arbeitslos an einem rostigen Nagel im Keller. Zwischen lauter stinkendem Leder!’
     ,Merkst du es nicht?’ sagte die rechte Schelle. ,Der Boy quasselt um sein Leben. Will uns einrollen. Wie das Rübensüßchen ihren Gebieter in Fünfhundertundeiner Nacht.’
     Klick... Auch um die linke Hand wurde es noch enger, als es ohnehin schon war. Natürlich hätte er die Schlösser verriegeln sollen. „Quetscht mir doch die Gelenke kaputt!“ schrie Jig verzweifelt. Nichts und niemand antwortete. Auf dem schwach ansteigenden Hang war es zwischen Steineichen und Pinien bis auf das Glucksen des Baches still geworden. Der späte Nachmittag hielt Einzug.

     Sein Arm auf Toms Schulter, das Handgelenk in Toms Faust, des Freundes triumphierendes Grinsen – ein Vorgeschmack auf das Pfadfinderlager... In Ketten würde man ihn zum Schuhputzer erniedrigen. „Ich wäre der Jüngste und Schwächste“, seufzte Jig und wischte mit einer Scheibe Brot das Fett vom Teller.
     „Nein“, sagte Alfred, der das Endstück der Bratwurst stets genüßlich zuletzt aufzuspießen pflegte. „Unsere Jungs sind zwischen elf und fünfzehn. Mit Kleineren drunter als du. Die kannst du um den Finger wickeln.“
     „Jig wickelt auch Größere ein“, sagte Tom sarkastisch und knuffte Jig hart mit dem Ellbogen in die Rippen.
     „Au –!“
     „Sei nicht so ruppig zu unserem Gast“, mahnte Alfred. „Wer schläft bei dir im Zelt?“
     „Niemand. Seit Rob uns verlassen hat.“
     „Rob? Ach ja...! Dann nimmst du Jig auf.“
     Jig atmete tief durch. Mit Tom in der Nähe, auch wenn der irgendwie das Sagen haben würde, sah die Sache freundlicher aus. „Scheint alles schon beschlossen zu sein. Mich fragt man sowieso nicht.“
     Alfred blieb geduldig. Trocken erwiderte er: „Wärst du mein Sohn, würdest du tatsächlich nicht gefragt.“ Er räusperte sich. „Jig, du solltest wissen, da wartet eine Reihe Jungs hinter dir. Von denen würde ich kein einziges Widerwort hören. Hätten wir nur Platz für sie!“

                                                          13

     Nach dem Abendessen warfen sich Toms Eltern in Schale. „Wir gehen mit Freunden einen Drink nehmen.“
     Jig argwöhnte, die Freunde seien seine Eltern, und Alfred überbringe seinem Vater die Vollzugsmeldung. ‚Unser Tom wird Ihrem Sohn mal richtig den Arsch versohlen, Sir.’ ‚Ach, wundervoll! Ich weiß gar nicht, Alfred, wie ich Ihnen und Ihrem Sohn danken kann.’
     „Können wir euch allein lassen, ohne daß ihr euch die Köpfe einschlagt?“
     „Locker!“ sagte Tom. Die Jungen standen einträchtig da, jeder den Arm um die Schultern des andern gelegt. Sie lächelten treuherzig, als könnten sie kein Wässerchen trüben. „Wir haben Frieden geschlossen.“
     „So? Hoffentlich hält er bis zum Zähneputzen.“ Alfred schmunzelte. „Zeig Jig dein Zelt, Tom. Vielleicht gefällt es ihm ja.“
     „Alfred, dürfen wir draußen übernachten?“
     „Von mir aus. Wird aber Regen geben. Kann lausig kühl werden.“

     „Hier ist alles wasserdicht“, erklärte Tom. „Auch der Boden. ’n warmen Schlafsack kriegste von mir.“ Das Licht der Taschenlampe lotete die Größe des Zweimannzeltes aus. „Wirst du’s unter zwanzig Jungs aushalten?“
     Jig sah nur Tom, der gerade wieder eine blonde Haarsträhne von den Augen wegblies und verlegen am Beinumschlag seiner Lederhose fummelte. Welcher Junge hatte je vor ihm gekniet und ihn so gewinnend angelächelt? So ein Freund machte Mut, alles durchzustehen. Geistig schaltete Jig von Schwarzwaldtannen auf Heidekraut um. Von weichen Hotelbetten auf harte Erde. Vom sanften ‚Zeit aufzustehen, Junge!’ zum ‚Hoch mit dir, Schlafmütze!’ „Ich wollte eigentlich im Schwarzwald Dichter werden“, bekannte er. „Wer weiß, ob die Heide mich inspiziert.“
     „He! – Inspiriert, meinste wohl.“ Tom frohlockte. Des Dolmetschers Sohn war nicht fehlerlos, wie er befürchtet hatte. „Dichter werd’ ich auch. Damit warten wir bis zum Herbst. Nichts gegen unsere Pfadfinder, nee! Aber die meisten von ihnen ham’s nich so mit Bücherlesen.“
     „Dacht’ ich mir.“
     Tom roch Jigs wieder steigende Unentschlossenheit. Den Mangel an Lesesucht hätte er besser unerwähnt gelassen. Er beschloß, Jig mit einer Finte festzunageln. Daß der ihn richtig gut leiden konnte, machte ihm heiße Ohren. Auch, daß Jig alle Prüfungen auf Tauglichkeit mit eins plus bestanden hatte.
     „Heh, was is’n mit deinen Händen?“ sagte er. „Wedelste dauernd rum damit! Hamse noch Lust auf einen Kick? Eben mal auf dem Rücken verschnüren... Willste?“
     Jig nahm an, diese Frage würde allabendlich sein letztes Stündlein im Zelt einläuten, sobald alle pfadfinderischen Verpflichtungen abgehakt waren und Schlafengehen angesagt wurde. „Okay“, seufzte er.
     Tom zog einen Lederriemen aus der Hosentasche. Den neuen Dreieinhalb-Meter-Giganten. „Null Knoten“, versprach er. „Da haste gute Karten zu entwischen. Kommste los, darfste dich in den Ferien mit deinem Teddybär langweilen. Im Schwarzwald. Schaffstes aber nich, sagen wir, während ’ner halben Stunde, haste mich am Hals. Im Heidelager. Versprochen?“
     ,Was zieht er mich immer mit meinem Teddy auf?’, murrte Jig unhörbar. Er vergewisserte sich wegen des Schwierigkeitsgrades: „Kein einziger Knoten?“
     „Nix nax nux. Werden nur eingewickelt, deine Patschen.“
     „Hast du da nicht die schlechteren Karten?“
     „Wer’n wa ja seh’n.“ Toms Slang, ging es steil abwärts in die Niederungen von Gefangennahme, riß Jig immer wieder hin. „Ich versprech’s!“ willigte er aufgewühlt ein.
     „Großes Ehrenwort?“
     „Wenn ich’s doch sage!“
     „Kein Rückzieher?“
     „Nein doch! Schätze bloß, wie ich deine Murksfesseln kenne – mir wirste dann nich sehen. Inner Heide, mein’ ich.“
     Doch das sagte er nur halbherzig. Allmählich setzte sich bei ihm die Erkenntnis durch, von Tom untergebuttert zu werden sei in Anbetracht der bisherigen Gemeinsamkeiten interessanter als Schwarzwaldbutter zum Frühstück plus Ermahnungen seiner Mama: ,Schmier dicker aufs Brot! Sollst doch zunehmen! Dafür sind wir hier.’
     Während der Herausforderer sich an seinen Handgelenken zu schaffen machte, überlegte Jig, ob der umschwärmte Junge, abgesehen vom oberflächlichen Umgang, dem Kleingeld unter Schülern, wirklich so gesellig sei, wie alle glaubten. Da Tom seine Pluspunkte raushängen ließ wie ein betörender Fliegenpilz, täuschte man sich schnell in ihm. Im Grunde war er ein anmutig trockener Pilz, an erhöhten Plätzen stehend. Den man gern pflückte und mit nach Hause nahm. Um jedoch in der Bestimmungstafel festzustellen, er werde erst nach umständlicher Zubereitung voll genießbar. Was wäre er, Jig, für ein Pilz? Einer, der sich unscheinbar in die Farne duckte, zwischen diese pflanzlichen Mitstreiter aus der Urzeit. Pilze gehörten nicht zu den pflanzlichen Lebewesen. Sie waren eben Pilze. Sonderlinge mit Namen wie Tom und Jig.



     „He! Was machst du denn da? So hatte ich ja Handschellen um.“
     „Ja“, sagte Tom. „Das nenn’ ich ’ne Armgeige.“ Jigs rechte Hand war an das linke Ellbogengelenk gebunden. Und jetzt band Tom Jigs linke Hand an den rechten Ellbogen. Er zog beide Schnürungen stramm zusammen, fädelte die losen Riemenenden mehrmals hindurch und zog nochmals fest. „Zeit läuft.“ Jig bekam einen ermunternden Klaps auf den Po. „Befrei’ dich!“
     Jig protestierte: „Du wolltest mir die Hände zusammenbinden. Von den Ellbogen war keine Rede.“
     „Ich sagte, auf dem Rücken verschnüren. Mußt eben nachhaken, wenn dir nicht klar ist, wie. Von wegen Murksfesseln und so!“
     Jig stieß empört die Luft aus. „Du hast mich reingelegt!“
     „Nö! Kriegst nur deine eigene Wortklauberei zurück. Und hör’ schon auf, an den Riemen zu zerren. Selbst ein Herkules könnte die nicht zerreißen.“
     Jig erspähte sich im Wandspiegel. Seine Arme waren zu einem Rechteck regelrecht verkeilt. Es spannte bis in die Schultern. Die Handgelenke waren so eng an die Ellbogen gebunden, daß er sie nicht einmal drehen konnte. Knisternd schoß eine heiße Welle durch den Körper, verharrte zwischen den Beinen, fuhr wieder aufwärts und entzündete ein heftiges Feuer im Kopf. Nochmals sträubte er sich mit aller Kraft gegen die Fesseln. Dabei fühlte er sich schauerlich wohl. „Tom“, flüsterte er, „du hinterlistiger Teufel!“
     Der Teufel kicherte geschmeichelt. Er wußte nicht, wie ihm geschah. Wieso der gefesselte Jig ihn so antörnte! Jiggys Hände hingen nutzlos wie schlappe Waschlappen auf Halbmast. Am liebsten hätte er ihm auch noch Daumen und Finger verschnürt. Nur, um an ihm weiter herumzufummeln.
     „Und du hast wirklich keinen Knoten gemacht?“
     „Nein! Mein Ehrenwort gegen deins.“ Tom rüttelte zufrieden an Jigs Oberarmen. „Leder reibt auf Leder mehr als Schnur auf Schnur. Der Riemen ist mehrfach mit sich selbst verschlungen. So was ist viel schwieriger loszukriegen als irgendein Knoten.“
     „O Mann! Ich gebe auf“, sagte Jig. „Du hast gewonnen! Aber deine Armgeige kriegst du in der Heide zurück. Mach’ dich auf was gefaßt. Im Naturpark lauert die gefürchtete gelbgrüne Quallennessel. Deinen Hosenbund lockern – und rein damit! Wenn du dann wieder keine Unterhose anhast... Mann, wird das rumoren!“

     Argwöhnisch studierte er den Waldboden. Aus Richtung Robledo de Chavela schienen jetzt mehr Ameisen aufzumarschieren. An den nackten Füßen zeigten sie kein Interesse. Der lange Weg zu den begehrenswerten Teilen des Körpers führte durch den Tunnel der engen Hosenröhren. Anzunehmen, daß die Königin zuerst einen behelmten Trupp Kundschafter abkommandieren würde. Vielleicht bedeuteten seine angepißten Jeans Duftmarken, die den Eifer der Tiere anstachelten. Über Ameisen wußte er wenig. Preußischer Drill und Fleiß gehörten zu ihren Eigenschaften. Sie würden nicht unterscheiden können, ob er freiwillig oder zwangsweise an der Steineiche verharrte, aber er bangte, in puncto Demontage seien sie nicht nur für totes Fleisch, sondern auch für lebende tierische Organismen programmiert.

     Es begann zu regnen. „Wir gehen rein“, ordnete Tom an. „Ich muß das Dokument aufsetzen, mit dem du um Aufnahme in mein Zelt bittest.“
     „Darum muß ich bitten? Muß doch sehr bitten! Wenn drum gebeten werden muß...“
     „Quatsch bloß nicht immer so ’n Stiefel! Mir scheint, ich sollte neben der Armgeige noch andere Saiten aufziehen.“ Tom hatte Jig ins Haus geschoben und öffnete eine schmale Tür im Flur. Plötzlich hielt er einen Rohrstock in der Hand. Er ließ ihn mehrmals durch die Luft pfeifen, bevor er ihn auf Jigs Kehrseite knallte.
     „Au!“ brüllte Jig.
     „Passend zum Arsch versohlen gefesselt, Sir“, erläuterte Tom. „Bitte davon Kenntnis zu nehmen, Sir, Ihre Hände können nicht in die Quere kommen.“ Wusch, wusch, tanzte die bananenfarbene Bambusgerte vor Jigs Augen herum. „Achtung, Sir, jetzt gibt es Saures!“
     „Verdammt, nein!“ schrie Jig.
     Aber Tom hatte mit dem Wehrlosen leichtes Spiel. Er umklammerte seinen Hals, beugte ihn nieder und drosch ihm mehrmals wuchtig übers Hinterteil. Dann schob er den schreienden Freund in die Besenkammer und drückte die Tür ins Schloß. „Das nächste Mal“, hörte Jig ihn dumpf, „zieh ich dir die Hose runter. Und unter zwölf Streichen fang’ ich gar nicht erst an! Jeder nackte Po im Universum versteht diese Sprache. Also überleg’ dir das mit den rumorenden Quallennesseln genau. Wir vergleichen dann mal, was mehr Blasen zieht.“
     Zuerst war Jig wütend. Doch er besänftigte sich schnell. Sein Gerechtigkeitsgefühl hielt ihm vor, Tom mit Brennesseln zu traktieren, sei wirklich überspitzt gewesen. Der Lederbengel hatte ja gleich Rache angemeldet. Rache war in Ordnung. Jig glaubte nicht, daß Tom jemanden grundlos verdrosch. So wie Klassenkamerad Lutz Viehfeger, der dafür bekannt war, andere beim geringsten Vorwand nur so aus Jux und Tollerei zu verprügeln. ,Was glotzt du denn so? Brauchste ’ne Abreibung? In welcher Ecke willste dann liegen?’ Tom war rücksichtsvoll, jedenfalls, wenn man sein Freund wurde. Da ging er mit körperlicher Gewalt sparsam um. Im Grunde war ihm als Schwächerem von Tom noch kein Haar gekrümmt worden, selbst beim Rangeln nicht. Andererseits wollte der neue Gefährte ihm nichts schuldig bleiben. Nesseln in die Hose stopfen... Er kicherte über seinen unerhörten Mut, diesen Vorschlag, den er aus einem Abenteuerbuch aufgeschnappt hatte, an jemandem nachzuahmen, den er erst zehn Tage näher kannte. Dafür stand er nun in der Besenkammer. Ein winziges Viereck nach Art eines Lüftungsschachts. So eng, daß er sich weder umdrehen noch die Knie abwinkeln konnte. Alles in allem war er märchenhaft schön gefesselt wie niemals zuvor. Und sein Hintern schmerzte kaum. Der lederne Hosenboden mochte das meiste abgefangen haben.
     Jig fiel ein, daß Tom in der Schule sich manchmal wie ein alter Mann unbeholfen erhoben hatte, wenn er aufgerufen wurde. Als hätte ihm etwas schlimme Schmerzen verursacht... Konnte gut sein, daß Tom väterliche Züchtigungen nackt erdulden mußte. Er hielt auch für möglich, daß der Kürschner die Strafe mit einem schweren Lederriemen vollzog. Damit es saftig schnalzte und eindringlich das Warum verdeutlichte. Biblisch betrachtet, erhielt man so einen Vorgeschmack auf Höllenqualen. Wie in Dantes Göttlicher Komödie, wo Jig nur mittels aufschlußreicher Illustrationen dem schwierigen Text halbwegs folgen konnte. Das Peinigungsprinzip als Sühne für Fehltritte stand ihm inzwischen klar vor Augen. Der Aufbau der Hölle schien bezüglich interessanter Gerätschaften wie Ketten, Peitschen und jeder Menge Seile zum Aufhängen an den Füßen weit lebenswerter als der Himmel mit dem ständigen Halleluja-Gerufe und Milchreis zum Frühstück. Fraglos zöge er ein Dasein als Höllenbewohner dem ewigen Leben vor, das die Heilige Schrift versprach. Selbst wenn er tagelang hungern und dürsten mußte und es so Fürchtenswertes gab wie Böcke, auf denen man zum Auspeitschen mit abgewinkelten Beinen und straff gespannten Hinterbacken festgeschnallt wurde. Vielleicht durfte man einen Lieblingsfolterknecht wählen. Selbstredend würde das Tom werden. Der ihn in Anbetracht alter Freundschaft mit seinem Bambusstecken nicht züchtigte, sondern kitzelnd auf den Pobacken herumfiedelte. Irgendwann nach Nummer Endlos des von ihm wiederholten Singsangs ‚Ach du meine zarte Arschgeige!’ würde er die Pflicht gegenüber dem Oberprügelmeister, vorgeschriebene Strenge walten zu lassen, mit einem einzigen brutalen Streich erfüllen. Ein Hieb wie mit einem glühenden Feuerhaken. ...Zratsch...!
     „Jiggy –?“
     „Mann, laß mich doch raus! Bevor ich ersticke.“
     „Blödsinn. Oben ist ein Lüftungsschlitz. Ich war schon mal zwei Tage lang eingekerkert. Am Stück.“
     „Spinner!“
     „Bei Wasser und Brot.“
     „Hör bloß auf und mach’ besser die Tür auf. Bevor dein Vater zurück ist und dir was geigt.“
     Siegesgewiß lachend, schlug Tom sich mit dem Stock über die Schenkel. „Hi hi, der hilft dir nicht die Bohne! Jungs müssen allein zurechtkommen. Das ist sein Spruch.“
     Jetzt spürte Jig seine Arme aufmucken, die er kaum rühren konnte. Würde sein Vater das auch sagen, Jungs müssen allein zurechtkommen? Bestimmt nicht! Oder – Jig fühlte sein Herz wie Trommelschlag – hatte der sich inzwischen in den Kopf gesetzt, ihn als Jungen den für sein Alter längst fälligen Echtheitsproben auszuliefern? Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Womöglich steckte Sir Elge diesbezüglich mit dem Kürschner bereits unter einer Decke. Und Sohnemann war eingeweiht und als idealer Erfüllungsgehilfe gewonnen worden. Der Lederbengel mochte einen Freibrief besitzen, Jig Elge, den Weichling, nach eigenem Ermessen zu zwiebeln... „Du läßt mich jetzt raus, Tom! Auf der Stelle! Ich will nach Hause gehen.“
     Durch das Lüftungsloch rieselte verblüfftes Schweigen.
     „Tom –? Hörst du nicht?
     „Äh..., bitte, nein! Tu’ mir das nicht an, Jiggy!“ Des Ledermeisters Sohn entschloß sich, seine Karten wenigstens teilweise aufzudecken. „Mann, das ist so: Alfred behauptet, ’n feiner Junge wie du und so’n ruppiger Bengel wie ich, das haut nie und nimmer hin. Ich hab’ gesagt, das seh’ ich anders. Jiggy ist gern bei uns. Und an mir hängt er wie ’ne Klette. Weil er mich richtig gern mag. Genau wie ich ihn. Das kriegt Pa einfach nicht auf die Reihe... Also haben wir drum gewettet. Mein Taschengeld verlieren, das ist mir schnuppe. Aber wenn du jetzt abhaust, hinterläßt du in meinem Kopf einen fürchterlichen Haufen Scherben.“
     Jig war geplättet von Toms bewegendem Geständnis. Mit klopfendem Herzen setzte er zum Einlenken und zu einer Würdigung an, da hörte er Stimmen. Die Haustür ging.
     Tom sagte etwas heiser: „He! Schon zurück?“
     „Uns ist eingefallen, ihr hättet vielleicht Lust auf eine Partie Siebzehn und vier.“
     „Äh – gern“, mümmelte Tom.
     „Ist Jig oben?“ fragte Alfred.
     „Ähm – vielleicht in der Toilette.“
     Ein Kleiderbügel klapperte. Gerda sagte: „Da! Schon wieder ein riesiges Spinnennetz! Dem werden wir gleich...“
     Der Riegel schnappte und die Tür ging auf. Jig blinzelte ins Licht.
     „Huh! Was machst du denn hier?“
     „Wir spielen Verstecken“, erklärte Tom geistesgegenwärtig.
     Alfred trat näher. „Ihr spielt wohl eher Einschließen!?“ Er zog den ihnen anvertrauten Jungen aus der Besenkammer. Sah, was mit ihm los war. Sah Jigs ratloses Grinsen.
     „Er hat sich selbst gefesselt“, erklärte Tom. „Mit der doppelten Armgeige. Dann muß wohl die Tür zugefallen sein.“
     Alfred studierte die raffiniert zusammengebundenen Arme. Musterte die Besenkammer. Kratzte sich am Kopf. „Ich muß schon sagen...! Nicht mal ein Zirkusartist könnte sich selber so zusammenschnüren. Geschweige denn wieder befreien...“
     Gerda strich Jig übers Haar. „Habt ihr auch so viele Weberknechte? Muß am feuchten Sommer liegen.“ Sie stellte den Schrubber, über den sie ein Tuch gelegt hatte, zurück in die Besenkammer. „Wir können auch Mensch ärgere dich nicht spielen, wenn ihr wollt. Jedenfalls gibt’s Erdbeerbowle und Salzstangen.“ Sie verschwand in der Küche.
     Alfred untersuchte den Lederriemen an Jigs Armen. „Alle Achtung, Tom! Sauber und regelmäßig geschnitten. Freihändig, wie? Wäre mir nicht besser gelungen.“ Auch er fuhr Jig durchs Haar. „An euren Ausreden müßt ihr allerdings noch tüchtig arbeiten. Hör mal, Jig, versteh’ mich recht: Zwei Jungs und was die treiben – da misch’ ich mich nicht ein. Weder unter den Pfadfindern noch hier zu Hause. Bis einer mir mitteilt, daß etwas vollkommen gegen seinen Willen geschieht. Raus mit der Sprache! Ist zwischen dir und Tom alles in Ordnung?“
     Jig hatte sein glaubwürdigstes Sonntagslächeln aufgesetzt. „Alles bestens, Sir!“
     Die Bambusgerte lag vor ihm auf dem Boden. Er hatte keinen Zweifel mehr, daß Alfred nach Fehltritten Toms damit das Taschengeld in starker Währung auszahlte. Auch wenn es verflucht weh tat, war es im Grunde eine lebendigere Methode, als ohne Abendessen weit vor der Zeit ins Bett geschickt zu werden. Und für die revolutionäre Gedanken fördernde Düsterkeit des In-der-Ecke-Stehens zöge er die pechschwarze Besenkammer vor. Leider hatten sie zu Hause keine.
     „Alfred, ich wollte mich für die Einladung bedanken. Und für die Lederhose. Ist mächtig nett von Ihnen.“
     Alfred lachte herzlich. „Paßt dir, wie? Das war Toms zweite Lederne. Ich hatte sie mit doppelt genommenem Zwirn genäht, als er zehn war. Die hält noch ewig! Bedanke dich bei ihm.“ Er kniff seinen Sohn ins Ohr. „Tja – willst du deinen Freund noch mal in die Besenkammer stecken? Oder darf er bei Siebzehn und vier wenigstens zuschauen?“
     „Da laß' ich mit mir reden“, sagte Tom. Froh darüber, daß Jig dicht gehalten hatte. Gleich machte er sich an seinen Armen zu schaffen. „Auf jeden Fall muß Jiggy meine Hose abdienen. Sonst begreift er nicht, was deutsche Handwerkskunst wert ist. Und deutsches Leder! Nach dem Zähneputzen kriegt er wieder den neuen Riemen um. Er darf ihn sogar über Nacht anbehalten. Da möcht' ich nicht kleinlich sein“
     „Uh!“ sagte Alfred. „Das seh’ ich mir keinesfalls an. Tja, was soll’s! Dein Freund wird nach Salzstangen und Erdbeerbowle sowieso abhauen.“
     „Können vor Lachen“, frohlockte Tom. „Die Haustür ist schon zugeschlossen. Die Kellertür auch.“ Während er Jig vollends losband, flüsterte er ihm ins Ohr: „Mitgekriegt? Alfred und Gerda rühren keinen Finger für dich. Solange du nicht petzt, stehst du unter meiner Fuchtel. Wenn du aber petzt, krieg’ ich heut’ noch was übergezogen, daß es nur so raucht. Also haste mich ganz in der Hand. So was Verrücktes erlebt man nur mit ’ner Range wie dir.“

                                                          14

     Die Ameisen hatten sich wieder zerstreut. Oder sie gingen einstweilen anderen Aufgaben nach. Aber er fühlte deutlich Späher herumkrabbeln, die sich Notizen machten. Nicht nur auf seinen Beinen. Einige waren bis zu den Murmeln vorgedrungen. Falls die Königin Marschbefehle ausstellen würde, mußte er sich auf dicke Luft zwischen den Schenkeln gefaßt machen.
     Er war sich darüber im Klaren, daß er die Schublade mit Tom nur deshalb so weit geöffnet hatte, weil sie ihn von seiner hoffnungslosen Situation ablenkte. Die Kinderschublade. Die mit der Aufschrift Jugend zog er selten auf. Da ging es nicht bloß um Erinnerungen. Er müßte Probleme aufarbeiten. Warum der vierzehnjährige Tom schon mit Mädchen herum getan hatte, er erst viel später und jetzt nur, wenn sie ihm wie von selbst ins Bett fielen. Warum Tom mit fünfzehn die Schule verlassen hatte und Lehrling in der Werkstatt seines Vaters wurde, der auch ihm eine Lehrstelle angeboten hatte. Warum er, Jig Elge, jedoch lustlos weitergelernt und lustlos studiert hatte. Irgendwo war die Lust als Synonym für Lebensfreude in der Kinderschublade steckengeblieben.

     Statt siebzehn und vier beharrte Tom auf einem komplizierten Würfelspiel namens Hexe. Ritter hatten Prinzessinnen zu erlösen, was nur durch eine Sechs mit Folgewurf möglich war. Blieb man im Bannkreis des Hexenhauses hängen, wurden die Holzkegel verzaubert und bekamen silberne Ringe übergestreift. „Mini-Handschellen“, behauptete Tom. Er war eifersüchtig geworden, weil seine Eltern Jig so selbstverständlich über den Kopf strichen, als wäre er auch ihr Sohn. Bei ihm vergingen Wochen ohne solche Aufmerksamkeiten. Außerdem hatten seine Eltern noch nicht geschnallt, daß Jigs glänzende dunkle Haare so gut wie in seinem Besitz waren. Wie der ganze Jig, der schon wieder so tat, als sei er Mister Oberschüchtern mit niedergeschlagenem Blick, dessen flinkem Augenrollen aber nichts entging. Die Salzstangen raspelte er unnatürlich geräuschvoll mit geschürzten Lippen. Tom hätte ihm am liebsten die rotkarierte Stoffserviette in die Gusche gestopft.
     „Ich konnte Jig im Zelt auf unser Lager einstimmen“, meldete er. „Elge junior wird mitkommen.“
     „So? Doch nicht etwa gnadenhalber?!“ erkundigte sich Alfred ironisch.   
     Tom patschte Jig vertraulich auf den Schenkel und ließ die Hand besitzergreifend dort liegen. „Schätze, der Knabe ist jetzt ganz wild auf die Heide.“
     Jig kam sich erbärmlich vor. Seine Eltern wollten ihn in den Ferien unter Jungs bringen, damit er abseits der Schule mal nette Freunde kennenlernte, und er spielte auf Rührmichnichtan. „Bitte, Alfred, es tut mir leid! Ich hab’ mich dumm benommen. Ich dachte, ich wäre nur eine Last für Sie. Weil ich nichts von dem kann, was Pfadfinder können.“
     „Oh, das lernt sich schnell“, sagte Alfred versöhnlich. „Und wenn du mit dem eigenwilligen Tom klarkommst, kommst du mit den andern Jungs erst recht klar.“
     Jig nickte zuversichtlich.
     „Aber kann ich mich auf deinen Entschluß verlassen?“ „Ja, Sir. Es ist, wie Tom sagt: Ich freue mich wirklich drauf. Und dann mußte ich’s ja Tom sofort mit Handschlag versprechen. Wegen bei ihm im Zelt und so.“
     „Uiih!“ Alfred legte den Kopf schief und rollte die Augen. „Dann werde bloß nicht wortbrüchig! Tom ist da sehr altmodisch. Er würde dich zum Duell fordern.“
     „Hat er mir schon erklärt. Ein Zweikampf mit den Fäusten. Von mir würde nichts übrig bleiben. Außerdem verlangte Tom, daß ich gleich die Zeltordnung unterschreibe. Wußte ja nicht, daß man weder Teddys noch Puppen mitbringen darf. Keinen Regenschirm, keine Wintersocken, keine Knallerbsen und auch keine...“
     „Unterschreiben –!?“ Alfred betrachtete mißtrauisch die beiden Knaben.
     „Tom hat letztes Jahr noch mit seiner Puppe gespielt“, sagte Gerda. „Wo ist die eigentlich hingekommen?“
     Tom schwieg und legte seine Hand quer über Jigs Hand, weil der beim Würfeln nicht an der Reihe war. Er warf eine Fünf und zog seine Figur. Tack, tack, tack… Seine nicht im Hexenbann stehende Prinzessin langte am verzauberten Prinzen Jig an, dem sie die Handschellen abnehmen durfte.
     „Gerda hat dich was gefragt“, mahnte Alfred.
     „Hab’ ich Onkel Paul geschenkt“, knautschte Tom hervor. „Für Cousine Silke.“ Es verdroß ihn, daß Gerda frisch-fröhlich seine Puppe ausplauderte. Denn Jig besaß mit dem Teddy die stärkere Figur im Bett.
     „Geschenkt –? So, so! Weil Paul dir Handschellen verschafft hat“, folgerte Alfred.
     „Na ja, eine Hand wäscht die andere“, krächzte Tom.
     „Hört mal! Was immer in dieser... Zeltordnung... steht, Lederriemen dürft ihr mitnehmen. Aber Handschellen haben bei uns Pfadfindern nichts zu suchen. Kapiert?“



     „Ja“, sagte Tom. „Jiggy in Handschellen – da fängt der sowieso immer an zu heulen.“
     „Und ich will lesen, was du da zusammengeschmiert hast. Zeltordnung! So was Blödes kann nur dir einfallen.“
     „Äh – das geht nicht. Das Dokument ist geheim!“ erklärte Tom.
     „Hol es sofort her!“ befahl der Kürschner. „Oder die Lederriemen für eure Spielchen werden auch gestrichen.“
     Jig fand dieses verschachtelte System kleiner Erpressungen überaus reizvoll. Das gab es bei ihm zu Hause nicht. Dort zogen Moral und Vernunft Grenzen, die selten überschritten wurden. Daß die eisernen Fesselknechte nicht dabei sein würden, erleichterte ihn. Sie hatten ihn vorhin im Zelt boshaft angekeilt. ,Wirst schon sehen, wie wir dich das Fürchten lehren! Und Schlüssel hat nur der Chef.’ Aber Tom und er ohne Lederriemen? Da konnte ihm die ganze Heide gestohlen bleiben.
     „Sir...! Wollte sagen, Alfred...! Tja – das ist blöd gelaufen... Tom zwang mich, das Schriftstück aufzuessen. Die doppelte Armgeige ließ mir keine Wahl. Außerdem drohte er mit einer Fußgeige.“
     Alfred musterte fasziniert den neuesten Favoriten seines Sohnes. Der war aus weit härterem Holz geschnitzt, als er angenommen hatte. Der Lümmel Tom schlug gelegentlich mit Verrücktheiten über die Stränge. Auch in der Schule. Gezüchtigt durch eine Fünf in Betragen, zu Hause mit dem Stock. Er hatte gedacht, Jig mit seinem ruhigen Wesen würde begradigend wirken. Das Gegenteil schien der Fall. Zu einem ausgekochten Schlingel bekam er einen zweiten dazu. Er hätte es wissen müssen. Äpfel fielen nicht weit vom Baum. Elge war umgänglich und kameradschaftlich, als Akademiker keine Spur herablassend, doch im Gespräch mit ihm bewegte man sich auf spiegelglattem Parkett. Der überraschenderweise trinkfeste Dolmetscher hatte ihm Jig wie eine seltene Frucht beschrieben, die sich durchaus zu pflücken lohne, eine sprechende Frucht, die mit Wörtern andere gern trunken mache. Ihn hatte er mit einem Bier nach dem andern trunken gemacht. Genau genommen hatte er ihm dieses Früchtchen aufgehalst. Sein Bruder Paul pflegte auf solche Menschen zu sagen: ,Sie argumentieren wie die Jesuten.’ Mit einem düsteren und zugleich amüsierten Blick auf die Jungen brach er die Ermittlungen ab. „Eine reichlich jesutische Wendung, Worte aufzuessen. Aber sei’s drum – Schlafenszeit! Marsch ins Bett, ihr beiden!“
     Gehorsam erhoben sich die Knaben. Alfred hörte sie noch tuscheln.
     Sein Sohn fragte: „Was is’n das, jesutisch?“
     „Je-su-i-tisch… Bedeutet so was wie doppelte Moral.“
     Dann quietschte oben unter der Dachschräge die Tür zu Toms Reich.
     ,Warum’, dachte der Kürschner, ,kommt mein Sohn nicht auf den Gedanken, mal die Scharniere zu schmieren? Der schmiert nur seine Lederriemen ein. Mit teurem Pferdefett. Damit sie widerstandsfähig bleiben...’
     Gerda sagte: „Hab’ noch nie von einer Armgeige gehört.“
     „Ach, das sind Spaßfesseln. Jungenspiele. Typisch für dieses Alter“, sagte Alfred kopfschüttelnd.
     Seine Frau kicherte. „Ich würde gern wissen: Muß Tom seine Freunde fesseln, damit sie ihm nicht weglaufen, oder laufen sie ihm weg, weil er sie fesselt?“
     „Ha!“ sagte der Kürschner. „Du bist ja gut! Das ist ein herrliches Beispiel für jesutischen Hickhack!“ Zerstreut suchte er die Weinkaraffe und Gläser zusammen. „Täuschen wir uns nicht“, sagte er. „Tom wickelt den Jungen zum Erbarmen ein. Aber der wickelt gleichzeitig Tom um den Finger, ohne daß er’s mitkriegt. Hast du gesehen, wie Tom sanft errötet, wenn Jig ihn warmherzig anlächelt? Schätze, unser Sohn hat endlich mal seinen Meister gefunden. Einen, der sich von Toms Kraftmeierei nicht beeindrucken läßt.“

     Nach dem Zähneputzen machten die Jungen es sich in Toms Zimmer gemütlich. Jig sah dessen Bücher durch. Gemeinsame Bekannte tauchten auf. Tom Sawyer, Alice im Wunderland, Old Shatterhand und Winnetou, Peter Pan... Darauf konnte man aufbauen. Auch auf Donald Duck und Mickey Maus, von denen er kaum Hefte besaß. Hingegen fehlten Grimms Märchen, die Griechischen Sagen, die Geschichten um König Artus, Tausendundeine Nacht... Das alles würde er seinem Freund schon noch verklickern! Er schlug ein lilafarbenes Heft mit dem Titel MUNDORGEL auf. ,There is plenty of gold, so I am told, in the bay of Sacramento…’ Offenbar Pfadfinderlieder. Das quadratische Heft war so klein, daß es in jede Hosentasche paßte.
     „Mann, bin ich geschafft! Bin hundemüde.“ Tom gähnte ausgiebig. „Hauen wir uns hin?“
     Jig war eigentlich noch in Stimmung, gleich ein paar Lieder auswendig zu lernen. Hier war er Gast. Da war es schicklich, sich anzupassen. Konnte nichts schaden, denn das Pfadfinderleben würden eine Menge Anpassung erfordern.
     Toms alter Schlafanzug war Jig reichlich kurz an Armen und Beinen. Vielleicht, dachte er, hatte Tom einen aus seinem gut gefüllten Kleiderschrank herausgesucht, bei dem er ungehindert an Hand- und Fußgelenke herankam. Für den nächsten Tag lagen graue Hemden und blaue Halstücher bereit. Gleich gekleidet würden sie zur Fahrradtour aufbrechen. Auf den Lederhosen rekelten sich die Handschellen.
     „Für die Ruhepausen in der Wildnis“, hatte Tom erklärt. „Damit du nicht durchbrennst und verloren gehst.“
     „Pah! Dann hau‘ ich eben gefesselt ab.“
     „Denkste! Rechte Hand und linker Fuß werden zusammengekettet. Sollen wir gleich mal ausprobieren, ob du so noch abhauen kannst?“
     Das Bett knarrte unwillig über den Fremdling, als Jig sich hineinlegte. Jetzt spürte er auch, wie sehr der Tag ihn erschöpft hatte. „Tom, ich will kein Spielverderber sein oder so was – aber darf ich bitte ungefesselt schlafen?“
     Des Kürschners Sohn kicherte belustigt. „Mann, immer noch Bammel vor mir? Deine Nachtruhe ist mir heilig! Mußt nicht alles für bare Münze nehmen, was ich so rausschiebe.“
     Tom löschte das Licht und schlüpfte in den Schlafsack am Boden. Alfred hatte angeordnet, der Gast habe Vorrecht auf das Bett. Tom war es egal. Er schlief überall gut.
     „Nacht, Jiggy. Ruf einfach, wenn du was brauchst.“
     „Danke... Gute Nacht, Tom.“
     Jig wälzte sich eine Weile herum. Bis er wußte, was ihm fehlte: Sein Teddybär. Plötzlich sah er das Bild wieder taghell: Rob, Toms nackten Körper unter sich, den er in Schach hielt, damit Pitt die Füße des Gefangenen zusammenbinden konnte. Bestimmt war jeder Widerstand gegen zwei stärkere Jungen zwecklos, und Tom hatte sich gar nicht erst gewehrt, weil es Rob nur noch mehr angestachelt hätte, Dinge zu tun, die man nicht tat. Inzwischen hatte Pitt Toms Hosentaschen durchsucht und die Handschellen gefunden. Rob war augenblicklich zur Besinnung gekommen. Bei den Pfadfindern war er bereits rausgeflogen. Würde er einem zweiten Jungen hautnah mitspielen, auf welche Weise auch immer, käme er unweigerlich in Jugendarrest. Die Polizeifesseln hatten die beiden Strolche auf Moral und Gesetz hingewiesen. Sie hatten, so verdreht es erschien, da Tom sie ja angelegt bekam, dem Jungen ganz entschieden Schutz geboten.
     „Tom –?“
     „...Ja?!“
     Jig nahm seinen ganzen Mut zusammen. „Tom – das Bett ist doch ziemlich breit! Mit Platz genug für uns beide.“ Jig lauschte mit klopfendem Herzen. Wär’ schade, wenn der aufregendste Junge, den er bisher kennengelernt hatte, das irgendwie in die falsche Kehle bekäme...
     Nach geraumer Weile raschelte es im stockdunklen Dachzimmer. „O Mann...“, sagte Tom. „Na los, rutsch’ rüber! Fehlt dir wohl dein Teddy, was? Falls du ihn jetzt zu Hause holen willst, daraus wird nichts.“
     „Will ich ja nicht.“
     „Hoff’ ich doch stark.“ Tom schniefte verlegen. Er überlegte, was seine Eltern sagen würden, er und Jiggy in einem Bett... Er spürte, sie mochten Jiggy mächtig gern. Wie noch keinen seiner Wochenendgäste. Sie würden wohl gar nichts dabei finden. Gerda und Alfred waren viel lässiger als die Alten von anderen Jungs. Würde Jiggy ihn im Schlafsack einschnüren, über die Schulter werfen und im Wohnzimmer aufs Sofa legen, würde Alfred womöglich noch Beifall klatschen. ‚Die Rübe wollte mich nicht friedlich schlafen lassen, Sir. Wußte mir nicht anders zu helfen.’
     „Jiggy, wenn du mich ins Bett holst, weil du irgend so einen Knall hast mit Schlafwandeln und so was... Also, mir dabei aus Versehen den Arm verdrehen und was du Racker sonst noch drauf hast – das laß’ lieber sein. Ich kann dir auch im Dunkeln beweisen, wer von uns beiden der Stärkere ist.“
     „Ja, Sir! Sie sind der Stärkere.“
     „Wirst ja wohl wissen, wie ich dir das Schlafwandeln abgewöhne.“
     „Klar weiß ich das.“ Jig überlegte, ob es die Aufforderung sei, besser gleich in den Schlafsack umzuziehen. Doch Toms Wärme lud zum Bleiben ein.
     Nach einer Weile flüsterte Tom: „Jiggy... du mit ’nem Teddy im Zelt – das würde echt komisch aussehen! Ich meine, wenn mal jemand reinschaut und so. Und im Ferienlager schaut dauernd jemand rein.“
     „Brauch keinen Teddy, Tom.“ Beherzt kuschelte Jig sich enger an seinen neuen Freund. „Hab’ ja dich.“
     Dabei fiel ihm der Spruch ein, den seine Mutter dudelte, saß sie an der Frisierkommode und machte sich für die Nacht zurecht: ‚Tu, was du willst, aber tu es mit mir.’

                                                         15

     ‚So verdreht es erschien...’ Plötzlich fühlte Jig mit der Vision von Plagegeistern wie Rob und Pitt seinen Kampfgeist zurückkehren. Die Handschellen mußten ihn freigeben! Es waren mindestens fünf Kilometer bis Robledo, und niemand streifte mitten in der Woche so weit vom Ort entfernt im Wald herum. Allenfalls Kinder, doch die Ferien begannen erst im nächsten Monat. Seine Handschellen, mit denen er auf Du und Du stand, würden schon gar nicht mögen, daß die Guardia Civil ihren Besitzer fände, bei dem sie sich gut aufgehoben fühlten. Denn man brächte sie und ihn in die Kaserne. Anders als in Deutschland war der private Besitz von Handschellen in Spanien verboten, handelte es sich doch um reinen Polizei- und Militärkram. Von der Kaserne ins Gefängnis. Oder sogar in die Klapsmühle. Wäre alles überstanden, würde man ihn des Landes verweisen, er bekäme auf Jahre hinaus kein Visum, und seine Llama würde er nie wiedersehen. Die ihn mochten. Weil er ihnen allabendlich über Kette und Schloßkästen strich und pünktlich am Monatsletzten ihr Gehalt auszahlte, ein Dutzend Tropfen Waffenöl. Das Pärchen war süchtig nach seinen schmalen Gelenken. Immer bettelten sie wie die Fleischerin in der Markthalle: ,Darf es etwas mehr sein? ’ ,Dürfen wir noch einen Zahn zulegen...?’ In der weichen Gesäßtasche seiner Lederhose war ihr Bereitschaftsdienst viel gemütlicher als in einem steinharten Polizistenetui.

     Rob und Pitt hatten bei Tom Nackedei am Hexenteich den Bogen überspannt... Tom hatte ihn gefesselt im Schlafsack vor seine Dachzimmertür gelegt und mit der bis zum Hals reichenden Kapuze zu einem namenlosen Objekt degradiert. Während er sich mit einem Mädchen im Bett vergnügte. Damit hatte der Lederbengel den Rahmen ihrer Spiele gesprengt und sich in Handlungen und moralischen Vorgaben Subjekten wie Rob und Pitt beträchtlich genähert.
     Erst in den großen Ferien glättete sich ihr Verhältnis wieder. Er hatte sich trotz seines ihm alles abfordernden Abiturjahrs nochmals überreden lassen, im Sommerlager Toms zweiter Mann zu sein. Weil Alfred ihn bekniet hatte. Der zu einer Lederwarenmesse in Offenbach am Main fuhr. Mit Elge als Dolmetscher. Anschließend wollten beide Ehepaare gemeinsam ein paar Tage durch den Spessart wandern. Die Freundschaft zwischen Tom und Jig hatte erstaunlich enge Beziehungen zwischen ihren Eltern gestiftet, trotz höchst verschieden gelagerter Interessen.
     Wegen des stark angewachsenen Zulaufs hatte der Kürschner die Pfadfinder für die großen Ferien altersmäßig geteilt. Der Sportlehrer und ein Abiturient fuhren mit den Zehn- bis Dreizehnjährigen an die Nordsee, Tom mit dreißig Jungs zwischen vierzehn und sechzehn in die Heide. Wobei zwei Studienreferendare nominell die Verantwortung übernahmen. Als einzige wohnten sie in der Jugendherberge, wo die Gruppe verpflegt wurde, büffelten nebenher für das zweite Staatsexamen und überließen Einteilung und Durchführung des praktischen Tagesablaufs weitgehend den minderjährigen Führern, Tom und ihm. Nach wie vor schliefen Tom und er im selben Zelt. Mit Fesselspielen im Schutz der Dunkelheit war es vorbei, und im Grunde verboten sich derlei Exzentrizitäten für sie im Rover-Rang. Allerdings gab es beim großen Geländewettkampf eine Art Epilog, als dessen Regisseur manchen Zutaten zufolge nur Tom in Frage zu kommen schien.
     Am Abend zuvor hatte Tom ihm eröffnet, er warte auf den Einberufungsbefehl und müsse die vollen achtzehn Monate Wehrdienst ableisten.
     „Bist du auch schon gemustert, Jig?“
     „Ja, natürlich.“
     „Ha, vielleicht werden wir gemeinsam eingezogen!“
     „Glaube ich nicht. Ich bin auf Tauglichkeit vier gestellt. In Reserve. Da wird man so schnell nicht gebraucht. Wenn ich ans Studium denke...“
     „Wieso bist du T-vier?“ Tom richtete sich auf.
     „Was –? Ach so... Mangelnde Belastbarkeit des Skeletts.’“
     Langes Schweigen. Schließlich sagte Tom: „Jiggy, du weißt, daß du okay bist. Der Bescheid läßt sich anfechten. Wir könnten Onkel Paul einspannen.“
     „Ich will jetzt nichts anfechten.“
     Tom hatte Jigs schmalen Oberkörper förmlich mit Blicken durchbohrt. „Schon klar, du willst nicht. Dein Vater war ja auch nicht im Krieg wie meiner. Der unser Land heute wieder verteidigen würde. Wieder gegen die Russen.“
     „Mein Vater kämpfte genau zwischen den Fronten, Tom. In Frankreich. Mit den Waffen des Kopfes. Frag ihn mal nach seiner Gratwanderung zwischen dem Vichy-Régime und der Exilregierung in London. Ein Wunder, daß er von keiner Seite erschossen worden ist.“
     „Gerade deshalb könntest du...“
     „Hör’ schon auf! Ich bin froh, daß man mich in Ruhe studieren läßt. Vier ist ja nicht endgültig. Die Ärzte werden mich in einigen Jahren nochmals untersuchen.“
     „Dazu kommt es doch kaum“, sagte Tom bitter, dem es nie gepaßt hatte, daß Jig mit seinen schwachen Muskeln kokettierte.
     Sie hatten die halbe Nacht diskutiert und zu wenig Schlaf gehabt. Als er Tom nach dem Frühstück um Dispens vom Geländespiel bat, war er erstaunt, daß sein Freund ihn, ohne zu murren, für den ganzen Tag entließ. Er trollte sich zufrieden. Jahrelang hatte sich dasselbe Szenario ergeben. Ohne rechten Kampfgeist wurde er bald aufgespürt, gefangengesetzt und stundenlang von Bonbons lutschenden, frechen Knirpsen bewacht. Als leichte Beute war er ein Schandfleck seiner Gruppe. Wieder und wieder vorgeführt zu bekommen, daß man als Junge ohne kräftige Glieder in gewisser Hinsicht nicht zählte, dafür hatte er bei aller Beredsamkeit noch immer keine verteidigende Strategie gefunden.
     „Quatsch’ nicht, sondern leg’ die Hände auf dem Rücken übereinander. Wenn du’s lieber heftig hast, tun wir das für dich.“

     Nach dem Mittagessen schrieb Jig an seine Eltern. Es nieselte leicht, so setzte er sich ins Zelt. Das Wetter pendelte unentschieden zwischen stark bewölkt und zaghafter Sonne. Er hörte, wie Tom mit seinen drei Unterführern die Einteilung besprach und der ganzen Truppe die Geländegrenzen einschärfte. Nach zwei Uhr herrschte Ruhe, alle waren ausgeschwärmt.
     Tom sagte zu ihm: „Dann will ich mich mal unters Volk mischen und nach dem Rechten sehen. Allzu rabiate Übergriffe werden nicht geduldet, du weißt ja. He, mach dich besser vom Acker! Ich hab’ zu verkünden vergessen, daß die Lehrer und du nicht mitspielen. Also könnten die Jungs euch in blindem Eifer hops nehmen. Da würde die Ausrede Kopfarbeit wenig nützen.“
     Damit spielte Tom plump auf seinen Vater im Krieg an, aber Jig verkniff sich eine Zurechtweisung. „Okay! Ich werd’ ein bißchen wandern. Den Kopf auslüften.“
     „Tu das. Bis dann!“
     Er hatte sich tatsächlich vorgenommen, ordentlich zu laufen, tief in die Heide nach Westen, in unbewohntes Gebiet. Das Geländespiel fand im Dorf und geringfügig über die Ortsgrenzen hinweg statt. So konnte er sicher sein, ein paar Stunden lang keine Jungenbeine zu sehen.
     Nach etwa zwei Kilometern schien ihm, daß ihm jemand folgte. Er versteckte sich in dichtem Gebüsch, platt auf dem Boden liegend. Zwei Jungs! In Pfadfinderkluft. Nicht zu erkennen, wer. Was hatten die soweit weg vom Spielbrett zu suchen? Ihn? Vorsichtshalber verharrte er reglos. Nach zehn Minuten schien die Luft rein. Die Burschen waren verschwunden. Wie er sich hochrappelte, erkannte er, daß er sich in der Nähe der Forsthütte befand, die der Herbergsvater ihm schon vor Jahren als verlassen bezeichnet hatte. Wegen des schönen Fachwerks riß man sie nicht ab.
     Um die Hütte herumgehend, sah er, daß das Holz auf der Wetterseite stark verwittert, gegenüber hingegen relativ glatt war, dort überzogen mit zahllosen Einkerbungen von Wanderern. Jig fiel ein, Tom und er hatten sich im ersten Sommer ihrer Freundschaft hier auch verewigt, doch fand er die Stelle nicht wieder. Er klappte sein Taschenmesser auf und erneuerte den Bund aus dem Jubelsommer: Tom + Jig 1957.
     Als er das Messer zurücksteckte, schrak er zusammen. Hinter ihm standen wie aus dem Boden gestampft zwei Jungen.
     „Hallo, Jig.“ Max und Moritz, die Zwillinge! Die blonden, blauäugigen Vierzehnjährigen waren Alfreds Vorzeigepfadfinder, sobald offizielle Anlässe abzuspulen waren.
     „He! Was habt ihr hier zu suchen? So weit weg vom Spielgebiet!?“
     Grinsend warfen sie sich einen Blick zu. „Jig, auch Rover dürfen beim Geländewettkampf nicht abhauen. Das zählt als Fahnenflucht! Du kennst doch wohl die Regeln!?“
     „Ja. Gewiß! Aber ich spiel’ ja gar nicht mit.“
     Wieder wechselten die Jungen einen langen Blick. „Alle spielen ohne Einschränkung mit, hat der Chef gesagt. Und alle sind gleich.“
     „Du liebe Zeit! Er wird meinen freien Nachmittag vergessen haben.“
     „Tom vergißt so bald nichts. Also müssen wir das im Lager klären.“ Der eine zog Schnur aus der Hosentasche. „Du bist festgenommen, Jig. Nimm die Arme auf den Rücken!“
     Er starrte auf die dünne Leine. Bis er merkte, daß er Handschellen erwartet hatte. Die von Onkel Paul. An zufälliges Aufspüren glaubte er nicht. Sie waren ihm gefolgt! Hatten ihn so weit laufen lassen, um zu verwischen, daß sie extra auf ihn angesetzt waren. Und nun wollten sie ihn nach der Logik des Geländespiels gefangen nehmen. „Das will ich nicht“, sagte er abweisend.
     „Du willst nicht!?“ lachte der eine.
     „Nee, er will nicht!“ übertönte ihn kichernd der mit der Schnur, die er ausgelassen herumwirbelte. „Haste etwa Schiß vor uns, Jig?“
     An Kräften hatte er während der Adoleszenz ordentlich zugelegt. Leider war die Muskulatur der schmalen Schultern und Arme ein Schwachpunkt geblieben. Deshalb konnte er im Judo meist nicht genügend Kraft entwickeln, um seine Griffe durchzusetzen. Sollte er es hier auf einen Kampf ankommen lassen? Sein Blick taxierte die Gefechtsstärke der beiden Pfadfinder, deren Uniform an die einer Militärstreife gemahnte. Von den für ihr Alter recht strammen Jungen würde ihn wahrscheinlich einer allein schaffen. Gegen beide hatte er nicht die geringste Chance. Flucht bot die einzige Alternative...
     „Aber da kommt ja Tom!“ rief er und wies mit ausgestrecktem Arm in das unübersichtliche, mit hoch wachsendem Wacholder bestandene Gelände.
     Verblüfft drehten sie sich um. „Wo?“ Wie der Blitz war er auf und davon. Und er war immer noch flink, im Hundertmeterlauf Zweitbester der Schule. Er wußte, er lief um seine Ehre. Gegen Toms frisch angerichtete Gemeinheit.

     Er lief, was seine Beine hergaben. Doch auf längere Distanz waren die durchtrainierten Burschen ihm an Ausdauer überlegen. Beharrlich rückten sie näher. Schließlich brachten sie ihn zu Fall. Sofort saßen sie auf ihm drauf. Ihr zweifaches Gewicht preßte ihm die Luft aus den Lungen. Er mußte kapitulieren. Jede Gegenwehr war sinnlos. Zumal er von dem Gewaltspurt heftiger keuchte als die Pfadfinder.
     Beinahe sanft bemächtigten sie sich seiner Arme, banden jedoch die Hände unsinnig fest auf dem Rücken zusammen. Dann streckten sie sich für eine Ruhepause lang im Gras aus. „Alle Achtung, Jig! Läufst wie ein Wiesel! Kann einem fast leid tun, daß du verloren hast.“
     Er wälzte sich auf die Seite und warf einen Blick auf seine Wächter. Tief seufzte er auf. So weit war er abgesackt! Sich von vier Jahre Jüngeren in die Pfanne hauen zu lassen.
     „Jig, sag einfach Bescheid, wenn du wieder richtig Puste hast. Eilig ham wir’s nicht.“
     Er setzte sich auf. Schließlich saßen sie zu dritt im Kreis, er mit düsterer Miene, die Zwillinge siegreich lächelnd. Castor und Pollux, der Stolz Spartas.
     Sie glichen sich wie das sprichwörtliche Ei einem andern. Gleiche Frisur und Haarlänge, gleiche Kleidung und Turnschuhe. „Willste ’n Kaugummi?“
     Jig verneinte, rief sich ins Gedächtnis, wer von den beiden wer war. Unterscheiden konnte man sie nur am Messertäschchen der Lederhosen. Max hatte das bundesdeutsche Hoheitszeichen aufgenäht, Moritz die Bourbonenlilie in Gelb. Anders als so manche Knaben in der Pubertät strahlten sie Selbstsicherheit aus. Auffällig war, wie überaus freundlich sie ihn mit großen Augen anblickten. Geradezu zärtlich.



     Er glaubte nicht, daß die Jungs mit einem Was-glaubt-ihr-wohl?-Donnerwetter in die Schranken zu weisen wären. Im richtigen Krieg gehorchten die Gegner einem ein an sich berechtigten Veto wohl auch kaum. Nach den vor Eifer strahlenden rotwangigen Gesichtern brauchte er von ihnen keine Grobheiten zu befürchten. So hatten er und Tom vor wenigen Jahren selbstvergessen gespielt. Wäre er nicht ein Unmensch, den Jungs das Vergnügen an ihrem kitzligen Auftrag mit autoritärem Gehabe zu verderben? Sie würden ihn insgeheim verachten. Er war ja selbst schuld, sich fangen zu lassen.
     Max fragte: „Können wir dann?“
     Willig zog Jig die Knie an, wollte sich hochstemmen, fiel dabei wieder auf die Seite.
     Also halfen sie ihm beim Aufstehen. „Jig, wir müssen dich transportfertig machen.“
     „Bin ich doch schon.“
     „Biste nich.“ Die Dioskuren kicherten. „Kriegst die Augen verbunden! Wir führen dich. Nicht, daß du uns noch mal abhaust. Und Knebeln kann auch nicht schaden.“ Sie knufften ihn ausgelassen in die Rippen. „Ist ja allseits bekannt, wie du einen mit Geschwafel in Grund und Boden stampfst. Wie die Sirenen Odysseus auf seinem Kahn. Am Ende sind wir dann die Gefangenen am Mastbaum.“
     „Hallo, ihr beiden –!“ rief er empört, „Knebeln ist streng verboten.“
     „Normalerweise schon. Heute ist es erlaubt. Solange die Gefangenen beaufsichtigt werden können. Haste wohl auch nich mitgekriegt!?“
     „Hört mal – ich laß’ mich doch nicht knebeln!“
     „Nee? Läßte nich?“ Jetzt bogen sich die Zwillinge vor Lachen. „Tut nicht weh, Jig!“ Moritz nahm ihm das Halstuch ab, faltete es zu einem Päckchen und sicherte es mit Schnur. „Öffnen Sie bitte ihren Mund, Sir!“
     „Halt! – Vielleicht gibt es Spielraum zum Verhandeln“, versuchte er dem Ärgsten zu entgehen.
     „Jig! Als Gefangener haste nichts zu melden!“ informierte Max.
     „Pfadfinder sind nicht bestechlich“, belehrte Moritz.
     „Also was gäb’s da zu verhandeln?“ klang die Sentenz wie aus einem Mund, obwohl nur Max gesprochen hatte. Er schien der Oberzwilling zu sein.
     „Leute, ich weiß ja, daß ihr am Drücker seid...“
     „Du hast es erfaßt!“
     „...Ich will nur nicht in den Lagerkerker. Ihr könnt mich doch hier irgendwo festsetzen. Dann krieg’ ich zumindest, was ich heute dringend nötig habe: Mal zwei Stunden Ruhe. Abseits von allem Getöse.“
     Max blies seinen Kaugummi zu einer Blase auf. Peng! Er flüsterte Moritz eine Weile ins Ohr. Der nickte und entließ einen noch gewaltigeren Ballon aus dem Mund. Flatsch!
     „Genehmigt!“ beschied der Oberzwilling. ,Allerdings können wir dich nich gleich nach Spielende holen. Weil anschließend der beliebteste Rover gewählt wird. Also – wir woll’n dann kleine Klagen hören. Überleg’ dir, ob du solange durchhalten kannst.“
     „Damit krieg’ ich sicher kein Problem.“ Wenn sie wüßten, wie lange er auf den Lederbengel Tom oft hatte warten müssen...
     Mit seinem Halstuch die Sicht genommen, führten sie ihn in das Wacholderdickicht des Heidewaldes. Weit abseits von Weg und Steg dirigierten sie ihn an eine Birke und banden die Knie fest. Gegen vier Bubenfäuste, die nun seine Hände losmachten, ihm dabei die Arme verdrehend, erlosch die letzte Möglichkeit zur Gegenwehr. Hinter dem Stamm wurden seine Handgelenke fachgerecht über Kreuz gebunden. Ein Klassiker mit starker Zeltschnur.
     „Wanderer...“ begann Jig schicksalsergeben zu deklamieren, ,kommst Du nach Sparta...“
     Es hatte ihn seltsam angemutet, sich in der Gewalt belesener Gymnasiasten zu befinden. Denn die beiden ergänzten wie aus einem Mund: „...Verkünde dort, Du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl.“
     „Stehen gesehen“, versuchte er sie aufs Glatteis zu führen.
     „Nee, Jig! Die toten Spartaner lagen am Boden. Du kannst dein Leben noch richtig genießen.“  
     „Danke“, sagte er angerührt.
     Flüsternd berieten sie sich. „Willste lieber sitzen, Jig?“
     „Wie großzügig!“ rief er sarkastisch. „Ja, wenn sich das einrichten ließe...“
     Nach längerem Getuschel informierte Max: „Hafterleichterung kostet ’n Fünwer.“
     „Seid ihr noch zu retten? Pfadfinder und billige Erpressung!“
     „Haste die Wahl“, sagte Moritz. „Wenn dir ’n Stehplatz lieber ist, kriegste gratis die Füße verschnürt. Und die Augen stellen wir wieder auf Null.“
     „Himmel, nein! Bloß das nicht!“
     Max kritzelte, Moritz’ Rücken als Schreibplatte benutzend, auf einen Zettel und hielt ihn dem Gefangenen vor die Nase. Jig Elge zahlt an Überbringer fünf Mäuse oder geht in Beugehaft. Undeloh in der Nordheide am...
     „Ihr seid ja ausgekochte Schlawiner!“ sagte er kopfschüttelnd. „Also gut! Ich unterschreibe nachher.“
     „Nee, gleich!“ Moritz bückte sich ins Heidekraut, zerquetschte eine Blaubeere, färbte Jigs Daumen ein und drückte ihn auf den Schuldschein
     Danach machten die Jungen seine Knie los und halfen ihm, sich hinzusetzen. Kichernd überprüften sie nochmals seine Handfesseln, zogen ihn frech an den Ohren und machten ihm klar: „Von allein kommste da nie raus, Jig. Das haste davon. Wider Willen spielste jetzt doch mit. Mutterseelenallein. Und finden tut dich hier niemand.“
     „Und wenn ihr mich nicht wiederfindet?“
     „Das wär’ blöd“, gab Max zu. „Kennste ja wohl das Gedicht von Annette Hülshoff, Jig Elge im Moor. ...Seine bleichenden Knöchelchen fände spät, ein Gräber im Moorgeschwele.“
     „Als Tertianer seid ihr ganz schön frech, wißt ihr das? Das werd’ ich euch schon noch heimzahlen.“
     „Biste jederzeit herzlich willkommen, Jig.“
     Beschwingt gestikulierend liefen sie davon. Energiegeladene Gestalten, die nach dieser Gefangennahmen des Tages nach weiteren Scharmützeln dürsteten und sich nicht mehr umdrehten. Jig konnte ja nicht wissen, daß sie ihn wie einen Tanzbären im Kreis herumgeführt hatten. Jetzt saß er grade mal fünfzig Meter von der alten Forsthütte entfernt.
    
     Natürlich probierte Jig gleich, was zu machen war. Absolut nichts... Die Finger konnten die Verschnürung nicht erfassen. Nur die Daumen ertasteten Stränge, die von beiden Gelenken wegführte. Wohin? Der dicke Birkenstamm nahm ihm die Sicht auf die Hände, doch die Arme lagen im Blickfeld. Ha, raffiniert! Die beiden Enden der soliden Zeltschnur umwanden über den Ellbogen die Oberarme und waren mehrfach verknotet! Obwohl die Zwillinge seine Hände einigermaßen locker verschnürt hatten, rauswinden konnte er sich keinesfalls. An die Ellbogen reichten nicht einmal die Fingerspitzen heran. Zwei hellen Köpfchen war eingeschärft worden, wie Jig mit ein paar zusätzlichen Knoten bombenfest zu erledigen war. Er schielte nach dem Taschenmesser. Weg! Offenbar hatten die Zwillinge es konfisziert, um ihm jeden artistischen Trick mit Beinarbeit abzudrehen. Als er mit aller Kraft versuchte, die Banden zu sprengen, schnitten sie schmerzhaft in die Haut. Der Geist der Schnur lachte hämisch. ,Kannste nach Herzenslust deine Kraft vergeuden, Bubi! Mit deinen Ärmchen wirste bei mir keinen Eindruck schinden.’
     Er hockte ohne Halstuch, Symbol der Pfadfinderehre, an einem Ort, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen. War vielleicht unklug gewesen, einen Platz vorzuziehen, wo er zwar seine Ruhe hatte, um den Wanderer aber wegen des morastigen Bodens einen weiten Bogen schlugen. Seine bleichenden Knöchelchen... Die Zwillinge hatten in einer halben Stunde mehr Literatur zitiert als Tom im vergangenen Jahr. Stachen heraus, die Jungs, aus dem ansonsten eher schläfrigen Pfadfinderklüngel.
     Das abgekartete Spiel hatte er sich fahrlässig selbst eingebrockt, bestätigt durch Art und Weise der luftigen Gefangenschaft in Toms Handschrift. Des Kürschners Sohn war wie der Vater naturverbunden und Verfechter einfachen Lebens ohne Luxus, der vom Wesentlichen ablenkte. Das hatte bis auf ihre Spiele abgefärbt, wo es Tom nie schnell genug gehen konnte.
     „Was fummelst du denn so lange?“ war sein Standardtadel gewesen.
     „Ich möchte etwas Neues ausprobieren.“
     „Da gibt’s nichts Neues. Die Pfoten auf dem Rücken zusammenbinden, das kannten schon die Altbiblischen. Der gute Abraham hat uns diese geniale Erfindung geschenkt. Jiggylein, was glaubste? Würdste nich mit deiner hübschen Fresse so einen echt zu Herzen gehenden Isaak abgeben?“
     Außerbiblisch war Tom erpicht darauf gewesen, seinem Patenonkel von der Bundeswehr Handschellen abzuluchsen. Doch so eng sie je auf dem Rücken angelegt wurden – gegenüber Lederfesseln bestand immer die Chance, daß man sie über Hintern und Beine nach vorn bekam. Erst ein Baum ermöglichte dauerhaften Verbleib.
     „Jiggy, so ’n quirliges Bürschchen wie du gehört an einem Baumstamm gestellt! Da bist du garantiert am Arsch.“
     Abweichend davon hatte Tom einmal Jigs Handgelenke aufeinander gepreßt und in eine einzige Schelle gesperrt. Mit der anderen Schelle hatte er ihn an den dünnen, aber äußerst widerstandsfähigen Stamm einer Jungbuche gekettet. „Schluß mit lustig, du Wicht!“ Nicht die strenge Fesselung, sondern der Wicht hatte zu einigen Tagen Zerwürfnis geführt.

     Wenn er es sich genau überlegte, folgte seine eigene Inszenierung hier in der Sierra de Ávila unvermeidlich denen in den Wäldern des Weserberglandes oder jener letzten in der Lüneburger Heide. Er kicherte geradezu wohlgemut. Irgendwie stärkte ihn der Rundgang durch Vergangenes auch mächtig am Körper. Jetzt fühlte er sich zehnmal besser. Weil die Hitze nachließ. Und die Ameisen sich zurückgezogen hatten. Heute schien er ihnen nicht zu schmecken.

     Zerwürfnisse mit Tom hatten nie lange gedauert. Am nächsten Sonnabend, nachdem Gerda, die die Jungen mit feinem Gespür überwachte, ihm am Schultor mitgeteilt hatte, es gebe Pflaumenkuchen mit Schlagsahne, wagte er sich mutig neben den Lederbengel an den Kaffeetisch. Der tat so, als hätte er ihn noch nie gesehen. Wie an den vergangenen Schultagen.
     Wohl begriff Jig den Spruch seines Vaters: Der Klügere gibt nach. Im Umgang mit Tom hatte er ihn jedoch zweckdienlich umgeformt: Der Klügere greift an. Er wartete, bis die Kaffeetafel aufgehoben wurde und Alfred und Gerda abräumten. Mit einem voll beladenen Kaffeelöffel katapultierte er Tom die Schlagsahne wie einen Gnadenschuß mitten auf die Stirn.
     „Schwein! Na warte!“   
     Doch Jig entwich behende in den Garten. Wo sie lauernd herumtigerten.
     Tom warf den Fehdehandschuh zurück: „Haste wohl endlich Mumm geschöpft? Trauste dich auch mit mich innen Wald?“
     „Wenn ich mir die Handschellen krich.“
     „Red’ vernünftig Deutsch, Boy! Oder es setzt gleich was.“
     Aber das war nur Geplänkel. Denn natürlich hatte Tom nur darauf gewartet, daß Jig nicht mehr muckschte. Schweigend stopfte er Jig Handschellen samt Schlüssel in die Hosentasche.
     Kaum hatten sie die Wanderwege verlassen, Vorbedingung für störungsfreies Erleben, blieb Tom stehen und legte die Hände auf den Rücken. „Jetzt mach’ schon!“ Jig war erstaunt gewesen, daß Toms Handgelenke genauso in eine Schelle paßten wie seine. Die Jungbuche hatte er sich genau gemerkt, da wurde Tom hingestellt.
     „Pah, die reiß’ ich mit Stumpf und Stiel aus!“
     „Morgen vielleicht, Lederbengel.“
     „Ist das alles, was du an Schimpfwörtern auf Lager hast?“
     „Schluß mit lustig, Arschloch! Kettenkerker bis zum Abendessen. Und keinen Mucks mehr! Hast ja wieder keine Unterhose an. Ganz schön unvorsichtig. Nach dem Platzregen gestern stehen die Brennesseln in vollem Saft.“

                                                         16

     Erst als die Sonne sank, kamen die beiden Rangen und befreiten ihn.      „Mann, das war alles so spannend heute, da ham wa dich fast vergessen.“
     Standen dann abwartend da, mit den Händen in den Hosentaschen, ob es eine saure Wortdusche setzen würde. Im Laufe des Nachmittags waren ihnen Bedenken gekommen, ob sie es mit dem sanften Jig nicht verscherzt hatten. Sie mochten ihn lieber als seinen lauten Freund, der nicht wußte, daß sie ihm den Spitznamen Getöse-Tom verpaßt hatten.
     „Biste uns böse, Jig?“
     Er stemmte sich mühsam hoch. Die Beine gehorchten nicht gleich. „Ich – böse? Quatsch! Hätt’ mich vor euch Schelmen rechtzeitig in Sicherheit bringen sollen.“ Er hatte Max und Moritz an den Haaren gezogen, als wollte er sie wie in der Geschichte von den bösen Buben ins Tintenfaß tunken. „Etwas eher hätt’ ich euch allerdings schon erwartet. Jetzt muß ich erst mal dringend pissen.“
     Auf dem Rückweg berichteten sie, auch die anderen drei Rover seien gefangen genommen worden. Toms Unterführer hatten seinen Chef gegen die Referendare austauschen wollen, aber die Antwort der gegnerischen Mannschaft lautete: Dürft ihr behalten – wir behalten Tom! Trotzdem hatte Toms Gruppe gewonnen. Sie hatte mehr Gefangene gemacht.
     „Tom war stinkewütig, Jig. Hat wie ein Wilder gekämpft, heißt es. Sein Pech sind zwei Judoka in der anderen Gruppe. Ist ja klar, die wollen’s echt mal wissen... Saustarke Jungs, kleben ’ne Weile zäh an ihm. Kucken sich an, wo Tom seine schwachen Stellen hat, bevor sie auf Tuchfühlung gehen. Zwingen ihn tatsächlich runter. Tom werden alle Viere auf dem Rücken zusammengebunden. So, wie er dann seinem Ärger Luft macht, ist er ein schlechter Verlierer. Überschüttet seine Bezwinger mit Kraftausdrücken, heilige Maria – solche ham wir noch nie gehört...! Ha, die Judoka zahlen’s ihm gleich heim. Streuen ihm Hagebuttenkerne ins Hemd, vorn und hinten. Ist  scheußlich schofel, so was. Einer feixt: Heute probiert der Lederbengel mal seine eigene Medizin. Unsere kriegt er gratis dazu. Zu was so’n Geländespiel doch gut ist! Dann sehense uns... Ha! Jetzt seid ihr dran, ihr freches Gemüse! Wollten euch schon lange als Sandwich verpacken. Denkste! – Im Judo habense ’ne Eins, im Geländelauf ’ne Sechs. Leicht und locker konnten wir entwischen...“
     Die eigene Medizin! Gedankenverloren setzte Jig Fuß vor Fuß. Er hatte Tom schon mehr als einmal gesagt, den Umgang mit Schnur müsse man Pfadfindern hauptsächlich an Astwerk und Zeltstangen beibringen, mit sparsam dosierten Abstechern zu Hand- und Fußgelenken. In dieser Reihenfolge. Nicht umgekehrt! Man könne es mit den Fertigkeiten echter deutscher Jungen auch übertreiben. Wie auch immer, gründete sich die Faszination solcher Geländespiele auf der Tatsache, daß Jungs sich ungeniert austoben durften. Auf der gerechten Grundlage eines Wie du mir, so ich dir.
     Ein Stoß in die Rippen traf ihn „...Hörste denn nich zu? Biste jetzt beliebtester Rover, Jig!“
     „Was –?“
     „Echt! Mit neunzehn Stimmen.“
     „Das kann nur ein Irrtum sein.“
     „Nee, Jig. Tom hat nur neun gekriegt.“
     „Heiliges Kanonenrohr!“ murmelte er wie zu sich selbst. Er rechnete nach. Die Referendare taten ihm leid. Verantwortung zu tragen, belohnten ihre dreißig Schäfchen mit grade mal zwei Stimmen.
     Max und Moritz fragten, ob sie mal zu ihm nach Hause kommen dürften. Seine Bücher anschauen. Die Plattensammlung. Seine Schulaufsätze lesen, von denen einer in der Provinzzeitung veröffentlicht worden war. Über Nacht bleiben. Sie würden Schlafsäcke und Coca-Cola mitbringen, auch Kaugummi, eine Liste ihrer Lieblingsautoren und Schlafanzüge... Vor Eifer verhaspelten sie sich in der Aufzählung. Er verhielt den Schritt, tat so, als sei ihm ein Stein in den Schuh geraten. Folgerichtig blieben die Jungs stehen, ohne ihr munteres Gezwitscher zu unterbrechen. Unauffällig studierte er ihre Mienen, während er den Turnschuh auf- und wieder zuband. Sie wirkten arglos, ohne Falschheit. Zwei ehrliche Häute. Sie würden es nicht durchschauen, falls Tom ihnen in gewisser Hinterhältigkeit auch diese Idee in den Kopf gesetzt hatte: Bei Jiggy und Sir Elge lohnt es sich zu landen. Wollte er provozieren, das sein Jiggylein stinknormalen Jungs, allerdings ein paar Jahre jünger, ihre speziellen Spielchen schmackhaft machte?
     „Meine Bücher und Schallplatten könnt ihr euch jederzeit nach der Schule anschauen. Zusammen was lesen und so, das machen wir besser bei Tom. Zum Übernachten hat der Zelte im Garten. Wart ihr denn noch nie bei ihm?“
     „Doch. Na ja... Schon.“ Begeistert klang das nicht. Als sei er dabei, ihnen das nächste Abenteuer mit dem Rover des Jahres, Jig Elge, zu versauen.
     „Jig...!“ Die Zwillinge umschlangen seine Arme. Wollten sie ihn zu weiterer Erpressung um einen Hausbesuch sofort in Beugehaft nehmen? „Jetzt mußt du uns fesseln, Jig.“
     „Himmel, warum?“
     „Ham wir uns so ausgedacht. Also, ich schwimm’ ’ne Runde im Teich. Während Max dich vom Baum losbindet. Du schnallst deine Chance auf Rache. Überwältigst Max. Führst ihn runter. Ich bin noch im Wasser. Schnappst dir meine Kleidung. Läßt mir die Wahl. Unehrenhaft nackig nach Hause, oder ehrenhaft gefangen. So schleppste uns ins Lager. Als gejagte Jäger. Na, wie findste den Plan?“
     Er fand ihn blödsinnig, war drauf und dran zu sagen, da mach’ ich nicht mit. Aber er wollte endlich was trinken und beim Abendessen sitzen. „Fabelhafte Idee! Habt ihr denn noch Kordel dabei?“
     „Nur noch ein kurzen Stück. War ein heftiger Tag. Bezüglich Gefangene machen und so. Aber Tom hat uns zwei Riemen ausgeliehen. Damit wir dich sicher zurückbringen.“
     „Ja, Pustekuchen. Her damit!“

     Sie hielten so mucksmäuschenstill, wie er den Wunsch erfüllte, als schlage Sir Jig sie zu Rittern seines Gefolges. „Tu’ uns bitte nicht knebeln, Jig!“



     „Hört mal, ich hab’ noch nie jemand geknebelt. Ist doch entwürdigend! Ihr habt es mir ja auch erspart.“ Er gab beiden einen Schubs. „So, ihr Racker! Jetzt im Gleichschritt – dalli, dalli!“
     Nachdem sie so im Spiel mit Jig für ausgleichende Gerechtigkeit gesorgt hatten, nahmen sie ihr munteres Geplauder wieder auf. Sie lasen vor dem Einschlafen bei Taschenlampenlicht Hermann Hesse, Max Demian, Moritz Narziß und Goldmund.
     „Alle Achtung! Bestes Deutsch. Das wird sich in euren Aufsätzen niederschlagen.“ Ihm fiel ein, wie wenig Tom noch an Literatur lag. Irgendwie hatten die Zwillinge an diesem Nachmittag gleich sein Herz berührt. Als Leseratten fand er sie nun entzückend. „Sagt mal – spielt ihr Schach?“
     „Wir sind Klassenbeste, Jig!“
     „Tja... Dann kommt doch mal auf einen Schachabend zu uns. Rücken wir meinem Vater auf die Pelle. Obwohl wir keinen Blumentopf gewinnen können. Er ist jüngst Landesmeister geworden.“
     „Pah! Verlieren macht uns nichts aus.“
     „Also abgemacht!“ Während sie dahin liefen, hatte er sich selbst die Hände auf den Rücken gebunden und hübsch fest verschlungen.
     Die Zwillinge staunten über diese Kostprobe Jig’scher Geschicklichkeit. „Kommste da auch wieder raus?“
     „Nee. Das funktioniert wie ein Schappschloß.“
     „Sollen wir dich nicht besser los schneiden, bevor wir im Lager sind? Wegen Autorität und so.“
     „Autorität raushängen lassen, liegt mir nicht so. Jetzt sitz‘ ich eigentlich gern mit euch im gleichen Boot.“

     Bei Ankunft im Lager erklärte er allen offenen Mündern, sie seien jungen Pionieren aus dem Arbeiter- und Bauernparadies in die Hände gefallen. Offenbar ein Trupp, der zielstrebig mit Messern zwischen den Zähnen die Elbe durchschwommen hatte. Um westdeutschen Jungs mal zu zeigen, was eine sozialistische Harke ist. Nur kapitalistische Läuferqualitäten hätten die Zwillinge und ihn vor der Verschleppung nach Sibirien bewahrt.
     „Wer’s glaubt, wird selig“, kommentierte Tom säuerlich.
     Sie hatten dann alle noch am Feuer gesessen und gesungen. Ein Storch spazierte einst am Teiche, da fand er eine blinde Schleiche. Er sprach: „Das ist ja wunderbar“, und fraß sie auf mit Haut und Haar. Tom hatte auf der Gitarre begleitet.
     Später, als Ruhe eingekehrt war, hatte Tom im Zelt bemerkt, die Zwillinge hätten wohl angenommen, er würde sich befreien können. Sie wären erstaunt gewesen, als er beim Abendbrot fehlte.
     „Tom, du weißt genau, daß deine Vasallen das Handwerk beherrschen. Ich würde morgen früh noch dort hocken.“
     „Na ja, Jig... Ich misch’ mich natürlich nicht ein. Folge da Alfreds Linie. Und wenn du dich von Zwergen fangen läßt...“
     „Nein, du mischst dich nicht ein. Sagst aber auch nicht, kümmert euch gefälligst um eure Gefangenen. Weil vorm Schlafengehen  ja durchgezählt wird. Im übrigen sind das keine Zwerge, sondern drahtige Sportler. Insofern freut es mich, daß die Judoka dich Kraftprotz geschafft haben.“
     „Die hab’ ich unterschätzt“, sagte Tom bitter. „Wie ich unterschätzt habe, daß dir so viele Jungs nachlaufen.“
     „War mir nicht bewußt. Wie mir nicht bewußt war, daß du mir damals nachgelaufen bist.“
     „O ja... Und das würde ich wieder tun.“ Tom hatte feuchte Augen bekommen. „Was die Zwillinge betrifft, die verehren dich klammheimlich schon lange. Haben sich bloß nicht an den Primaner Jig Elge rangetraut. Dein Vater sah das und setzte ihnen einen Floh ins Ohr – ich hab’s selbst gehört: Holt euch beim Geländespiel meinen Nibelungen-Boy. Erst recht, wenn er kneift. Und er wird kneifen! Also fangt ihn rechtzeitig ein und macht ihm mal richtig Feuer unter dem Arsch. Wie ich meinen Sohn kenne, zählt er euch danach zu seinen Freunden.“
     „Einer von Sir Elges raffinierten Schachzügen. Hab’ mir schon so was gedacht... Die Zwillinge luden sich selbst ein. Ich wollte sie abwimmeln, bis mir hinsichtlich Schachspielen aufging, mein Vater würde sie in jedem Fall ins Haus holen. Tja, Tom, das sind jetzt meine Vasallen. Zwei unglaublich natürliche Jungs. Fesseln ist für sie wie Kaugummi kauen. Es bedeutet ihnen absolut nichts. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh mich das stimmt.“           

     Tatendurstig wie Max und Moritz rückte er sich an der Steineiche zurecht. „Jetzo muß das Werk gelingen, frisch Geselle, sei zur Hand... Auf geht’s, meine eisernen Gebieter! Habt euch nicht so! Seid nicht mehr beleidigt, weil ich euch vier Wochen nicht angesehen habe! Da ist ein neuer Job, in dem ich mich zurechtfinden muß. Selma würde sagen, sähe sie euch in der Firma zwischen den Wörterbüchern auf meinem Schreibtisch: Was soll der Unfug, Jig? Und erst Paco! Der würde glauben, ich hätte ihm seine Handschellen entwendet.“
     Paco, der Streifenpolizist, der den Verkehr auf der einen Steinwurf entfernten Plaza Cibeles regelte und zwischen den kurzen Schichten in der Firma Hilfsdienste versah, weil er nur mit einem zweiten Job über die Runden kam. Pistole und Handschellen legte er dann im Keller auf einen Stuhl. Die Pistole mochte Jig nicht anrühren, obwohl Paco ihn in Zigarettenpausen mehrfach dazu ermuntert hatte.
     „¡Alemán, atrévete!“
     Nein, Schußwaffen behagten ihm nicht. Prompt hatte Paco ihm die Handschellen angelegt, gewissermaßen wegen renitenten Verhaltens. Der athletische Polizist hatte ihn mit festem Griff um den Ellbogen zu einem Rundgang durch die Firma verdonnert.
     Selma fragte: „Wieder mal Mumpitz im Kopf, Jig? Wann bekomme ich die Übersetzung für Torres & Betancourt?“ Er war gar nicht erstaunt gewesen, als sie drohte: „Ich fürchte, ich muß Paco bitten, Sie in Fußeisen einzuschließen. Falls Sie weiter so herumtrödeln.“

     Nein, keine Sekunde weiter mit Erinnerungen vertrödeln! „Trollt euch, ihr schmeichelnden Schatten der Vergangenheit! Bin ja nicht mehr der Jammerlappen, der ich mal war. Jungs wie Max und Moritz haben mir eingeschärft, daß Kämpfen nicht die schlechteste Alternative ist.“
     Er preßte Rücken und Schultern so eng wie möglich an den Baumstamm. Ein energischer Ruck mit Beinen und Hüften. Und noch einer. O Wunder! – die Arme rutschten tatsächlich über den Knorpel in der Rinde hinweg. Nun stand ihm die notwendige Bewegungsfreiheit für das weitere Vorgehen wieder zur Verfügung.
     Sich in Position zu bringen, um die Schlüssel fassen zu können, das ging er nach den vorangehenden Erfahrungen mit äußerster Vorsicht an. Würden die Dinger mit einer unkontrollierten Handbewegung nochmals außer Reichweite gewedelt, wäre es endgültig aus. Eine zweite Reise um die Steineiche herum würde er keinesfalls schaffen.
     Schließlich hatte er einen der Schlüssel fest in den Fingern. Aber die Suche nach der Schloßöffnung dauerte. Er kannte jeden Quadratmillimeter der Llama – sie auf dem Rücken blind zu manipulieren, war immer noch eine kleine Herausforderung. Als der Schlüssel endlich steckte, versagte die unnatürlich abgewinkelte Hand den Dienst. Daumen und Zeigefinger vermochten die starke Feder, die die Sperrklinke niederhielt, nicht genügend zu spreizen. Er versuchte es eine Weile mit entspannender Gymnastik. Es änderte nichts. Also blieb nur die unbeholfenere Linke. Sie schien voller Energie. Und schon der erste Versuch brachte den Schlüssel ins Schloß. Zunächst drehte er in die falsche Richtung, bis der Bart an den nicht aktivierten Riegel stieß. Eine halbe Drehung zurück, dabei den Schlüssel konzentriert niederhaltend, damit er nicht wieder herausrutschte, und langsam weiter bewegen, bis zum Widerstand der Feder. Noch ein Stückchen...
     Alles in ihm war bis zum Zerreißen angespannt. Die Blase nutzte das körperliche Chaos zu klammheimlicher Entleerung. Angewidert schloß er die Augen. Nicht ablenken lassen, Jiggy! Die Finger befehligen! Den Schlüssel gerade halten! Bloß nicht verbiegen, daß er im letzten Moment womöglich noch abbricht... Ratsch! Kratzend schliff die Sperrklinke über den aufspringenden Bügel. Als könne er es nicht fassen, löste er die Schelle unsinnig behutsam vom Gelenk.
     Unglaublich erleichtert saß er da. Er heulte vor Glück. Der Alptraum war überstanden. Eine Weile dachte er an gar nichts. Bis die Geschwister Llama sich maulend zu Wort meldeten. ‚Germanischer Spielverderber! Wir hatten dich Heulsuse doch so gut wie auf Nummer sicher.’ „Haltet bloß euer blödes Maul“, sagte Jig, während er sich die Tränen abwischte. „Oder das Schmieröl wird gestrichen. Ich traktier’ euch so lange mit Salzwasser, bis ihr häßlichen Rost ansetzt und quietscht wie die rheumatischen Glieder eurer Urahnen. Falls ihr Glück habt, erbarmt sich ein Sammler und beschert euch einen Platz in seiner lichtlosen Vitrine für Behinderte und verstümmelte Veteranen. Nie wieder ein Handgelenk sehen, geschweige denn umspannen – hört ihr mich? Ein Alptraum für jede vitale Handschelle!“

     Nachdem er sich eine Weile erholt hatte und die lahmen Arme wieder voll zu gebrauchen waren, besann er sich auf seine äußere Erscheinung. Er suchte nach der Quelle. Sie verbarg sich hinter einem Wall alten Buschwerks. Das Wasser sprudelte üppig aus dem felsigen Boden. Weiter vorn staute es sich wie in einer Wanne, bevor es die lange Reise ins Tal antrat. Er wusch die verpißten Jeans und das verschwitzte Hemd, dann legte er sich hinein. Auf einer von Rosmarinsträuchern umstandenen Lichtung trocknete ihn der warme Wind. Dabei meldeten sich Hunger und Durst. Ein gutes Zeichen, schien ihm. Das Leben ging weiter. Obwohl die Sonne bereits tief stand, hingen ihre Strahlen noch im Geäst einer hoch aufragenden Pinie. Nackt schmiegte er sich an die kühle Erde. Hätte beinahe mein Grab werden können, dachte er und grinste. Denn die Regungen zwischen den Beinen wiesen voll ins Leben. Dabei fiel ihm der Kalauer seines Vaters ein. ,Peng!’ rief der Kraftprotz mit dem Wuschelhaar. ,Noch einmal!’ sagte das Mädchen im Moos.
     Beim Aufbruch flatterte ein Vogel neben ihm her, von Ast zu Ast. Eine Elster. Schließlich zwitscherte sie: „Könnte ich wohl eins von den niedlichen blanken Stäbchen haben?“ „Das würde dir so passen“, sagte er. „Zieh bloß Leine!“ „Aber du hast doch zwei!“ „Genau! Und dich schick’ ich in die ewigen Jagdgründe und versammle dich zu deinen Vätern, wenn du nicht augenblicklich Mücke machst.“ Fassungslos griff er sich an den Kopf. Diese fliegende Diebin hatte ihm den ganzen Nachmittag aufgelauert!

                                                          17

     Im Bummelzug nach Madrid kontrollierte die Guardia Civil die Ausweise. Jedermann schien damit gerechnet zu haben. Und jedem war klar, daß die Regierung befürchtete, die Pariser Mai-Demonstrationen würden auf Spanien überspringen. „Ihr Visum läuft in vierzehn Tagen ab“, sagte der Mann mit dem Lackhelm, während er den Paß durchblätterte. Die Achselstücke seines Uniformhemdes waren schweißnaß. „Sí, Señor. Hab’ die Verlängerung schon beantragt. Die Bestätigung ist eingestempelt.“ Der Beamte überzeugte sich davon und nickte. Er gab Jig den Paß zurück und schenkte ihm ein wohlwollendes Lächeln. „¡Muy bien, hombre!"
     Jig nahm es mit gemischten Gefühlen hin, daß die Deutschen in Francos Diktatur einen Stein im Brett hatten. Sein Blick fiel auf das schwarze Lederetui am Gürtel des Polizisten. Offenbar war die Verschlußklappe zwecks schnelleren Zugriffs abgetrennt worden. Schloßgehäuse und die zwei Kettenglieder der Handschellen waren sichtbar. Marke Llama, dasselbe Modell wie seines. Vorsichtshalber klemmte er die Hände zwischen die Schenkel, um nicht danach zu greifen. Denn für seine Füße konnte er ein zweites Paar gut gebrauchen. Leider war Paco weder mit Geld noch guten Worten zu bewegen, sein Exemplar herauszurücken. Mit offenem Mund saß er auf der harten Holzbank der dritten Klasse. Gerade erst einer bösen Situation entronnen – und schon wieder unternehmungslustig! Der Waggon schlingerte auf der kurvenreichen Strecke durch die Berge, schüttelte ihn hin und her. Wie Tom ihn durchgeschüttelt hatte, wenn ihm, Jig Elge, etwas besonders Leichtsinniges eingefallen war. Angewidert von sich selbst betrachtete er die tief eingekerbten blauroten Rillen in beiden Gelenken, Spuren langer Haft in zu engen Stahlfesseln. In El Escorial füllten sich die Abteile bis auf den letzten Platz. Arme und Hände ließen sich vor den Mitreisenden nicht verbergen. Er stand auf und stellte sich ins Halbdunkel der Plattform.
     In Atocha angekommen, lief er zu einer Bar auf der Plaza Santa Ana. Dort wartete ein Gottlieb’s, den er sehr schätzte. Der Flipper ließ sich mit Freispielen nicht lumpen, wohl weil die Kugeln aberwitzig langsam abliefen. Vielleicht hatte David Gottlieb bei der Produktion dieser Pinball-Maschine die Spendierhosen angehabt. Den brennenden Durst löschte er mit mehreren San Miguel. In den vor Hunger bereits apathischen Magen schaufelte er eine gewaltige Ladung Kartoffel-Tortilla. Später saß er sinnend an einem Tischchen und ließ den Tag in den Bergen Revue passieren. Tom würde so etwas nicht widerfahren. Der sah keinen Sinn darin, sich selbst zu fesseln, hatte es schon gehaßt, länger als eine halbe Stunde in Jiggys Gewalt zu sein. Oft hatte er sich bei ihren Spielen freigekauft. Anfänglich waren für ein Würfelauge zehn Pfennig zu berappen gewesen, was in jedem Sommer um einen Zehner erhöht worden war. Kichernd rechnete er nach. Jetzt wären sie bei eins zwanzig angekommen. Womit das Lösegeld für zwei Sechser vierzehn Mark und vierzig Pfennig betrug. Doch Tom war verheiratet, eingespannt durch Frau und Kind in täglich wiederkehrenden zahllosen Verpflichtungen, die ihm keinerlei Freiraum für jegliche Art der früheren Spiele gewährten. Die Partnerin zum Mitspielen auffordern? Jig schüttelte den Kopf. Jene Partnerin würde Tom etwas husten. Das wußte er nach seinen Erfahrungen mit ihr.

     Toms Sprunghaftigkeit hatte sich auf seinen Lebenslauf ausgewirkt. Am achtzehnten Geburtstag hatte er bekannt: „War ein Fehler, die Schule hinzuschmeißen. Mindestens hätte ich was anderes lernen sollen.“
     „Warum? Ihr habt doch ein gutgehendes Geschäft!?“
     Tom lachte gequält. „Für meine Eltern wird’s reichen. Nicht mehr für mich. Zum Beispiel Lederhosen. An denen Alfred fabelhaft verdient hat. Wer kauft die noch? Jungs wie Mädchen tragen jetzt Blue Jeans. Alfred wollte in die DDR liefern. Aber dort wird Lederkram generell viel billiger produziert. Wen kümmert da die schlechtere Qualität?!“
     „Und was hast du nun vor?“
     „Weiß ich nicht. Sag du mir, für was ich begabt bin.“
     Jig hätte fast den Frosch aus dem Mund gelassen: Mädchen den Kopf verdrehen, das kannst du! Wie du mir den Kopf verdreht hast... Ungewiß zuckte er die Schultern. „Mit der Lehre bist du ja fertig. Mach' den Meisterbrief. Handwerk hat jederzeit goldenen Boden. Statt kurzer Lederhosen lange. In schwarzem Nappa. Kommen jetzt toll in Mode.“
     „Ja, die sehen geil aus“, bestätigte Tom. „Und sie fühlen sich am Körper auch supergeil an. So was in knalleng – Mann, da kann einem heiß werden! In unserem Kaff trägt leider keiner welche.“
     „Doch“, sagte Jig. „Elli hat eine.“
     Mit einer Stimme, als schöpfte er Zuversicht, sagte Tom: „Die habe ich gemacht.“ Mißtrauisch setzte er hinzu: „Wann hast du denn Elli gesehen?“
     „Äh – ist schon eine Weile her. Mal was von ihrem Bruder gehört?“
     „Rob...? Der sitzt im Jugendknast. Hat ein Mädchen gegen dessen Willen bearbeitet.“
     „Tja, er kann’s wohl nicht lassen. Und sein Stiefellecker Pitt?“
     „Ist zur Fremdenlegion abgeschwirrt. Die nehmen solche Hohlköpfe, ohne viel zu fragen.“

     Mit der Metro fuhr er heim. Im Zimmer seiner Wirtin schlug er ein nagelneues Notizheft auf. Mit rotem Buntstift schrieb er: Die Ballade vom Lederbengel Tom und Handschellen-Jig. Er malte ein rotes Herz rechts und links zur Überschrift. Setzte einschränkend hinzu: Arbeitstitel.
     Lange kaute er dann am frisch gespitzten Bleistift. Schlug sich damit nervös auf die Finger. Der Anfang war das Schwierigste jeder Story. Schließlich tropften die ersten Worte hin: Aux intelligents et aux sensibles. Henry de Montherlant, 1967. Die Widmung des Franzosen für sein Buch Les garçons hatte es ihm angetan. Es paßte auf Jungs wie Tom und ihn. Allerdings waren sie bei weitem nicht so beispiellos albern aufgetreten wie die ständig kichernden Pariser Lycéens in dem Roman, der vor dem Ersten Weltkrieg spielte. Die karge Nachkriegszeit hatte sie markiert, in der trotz ernsthaftem Unterton Toms Rauhbeinigkeit oft forciert gewesen war. Des Kürschners Sohn hatte mehr oder weniger bewußt nach dem idealisierten Bild eines deutschen Jungen geschielt. In einer kaputten Zeit, in der man sich notgedrungen an althergebrachte Ideale zu klammern versuchte. Hatte man das Glück, Tom näher zu kennen, gab er sich, wie er wirklich war: sensibel, rücksichtsvoll, kameradschaftlich.
     Er starrte auf die Handschellen neben dem Schreibzeug, die er mit einem von Toms dünnen Lederriemen fest zusammengeschnürt hatte. Sie maulten. „Drei Tage verschärfter Knast!“ sagte er. „Und ich will keinen Ton mehr hören! Oder ich stopfe eure Schlüssellöcher mit ausgelutschtem Kaugummi.“
     Durch die offene Balkontür wehte ein kühlender Luftzug herein, leider auch der Lärm des pausenlosen, dichten Verkehrs auf den sich kreuzenden Straßen Conde de Peñalver und Alcántara. Plötzlich wußte er, wen Tom geheiratet hatte.
     „Sie ahnt nichts davon, daß ich gern mal nach Strich und Faden gefesselt bin. Wäre, muß ich jetzt wohl sagen.“ Tom seufzte tief auf. „Das ist vorbei. Und du?“
     „Ich –? Ah, ich möchte mir gern Handschellen kaufen. Du willst mir deine ja nicht überlassen.“
     „Auf keinen Fall! Obwohl es eigentlich unsere sind. Beide haben wir oft genug drin gesteckt. Weißt du noch? Die Wanderung im Solling, an deinem Fünfzehnten? Bei einer Rast kette ich dich an mich. Witzele albern: Damit das Geburtstagskind nicht ausbüxt! Du sagst lachend: Und ich dachte grade, was tue ich, damit er mir nicht untreu wird? Das Lachen vergeht uns, als einer mal ins Gebüsch muß. Mann, beide Schlüssel lagen in der Jugendherberge! Aneinander gekettet sind wir weiter marschiert. Bis Uslar. Waren so an die zwölf Kilometer... Ach Jiggy, Onkel Pauls Handschellen sind die einzige Brücke zur schönsten Zeit meines bisherigen Lebens.“
     „Tja...“ Er wußte, er hatte sich vorsichtshalber die Augen ausgewischt. Bei so einem Rückgriff auf die Jugend saßen die Tränen locker. „In Hamburg auf der Reeperbahn soll es Handschellen zu kaufen geben. Mein Bruder mäkelt, seit er volljährig ist, ständig an mir herum. Ist zwecklos, ihn zu bitten, mir ein Paar zu besorgen. Ich tüftele nämlich an einem Mechanismus, der den Schlüssel festhält und erst nach gewisser Zeit frei gibt – äh, beispielsweise von einem Baum runter schmeißt. Ein Elektromagnet. Du kennst ja mein Faible für Elektronik. Die Schaltung ließe sich mit Batterien und wenigen Bauteilen leicht realisieren.“
     „Jiggy, wenn du ein Mädchen kennenlernst, das du richtig lieb hast – vergiß bloß diese Jungenspinnereien! Damit vergraulst du dir nur jede Freundin. Gerade du mit deinem Defizit an holder Weiblichkeit kannst dir das nicht leisten! Ich bin ja, wie man so sagt, bereits unter der Haube.“
     Jig schüttelte den Kopf. Er faßte die Handschellen bei der Kette und schüttelte sie tadelnd. „Hab’ euch schon verziehen. Hört jetzt auf, so beleidigt zu glitzern! Aber Strafe muß sein. Ihr bleibt drei Tage gefesselt.“ Das trennte Tom und ihn. Für ihn waren es mehr als Jungenspinnereien. Es war ein roter Faden in seinem Leben. Er würde keine Frau darin zulassen, die das in Frage stellte. Denn damit stellte sie einen Teil seiner Existenz in Frage.
     Deswegen hatte es auch mit Elli nichts werden können. „Hör auf, von Wäscheleinen zu quatschen. Um deinen Körper und so. Ich bin keine Segelfrau, die mit Stricken und Schnüren und so was hantiert.“
     In der Nacht, da er neben ihr gelegen hatte, oben im Wald über dem Hexenteich, einer warmen Sommernacht mit Mond und allen abgehobenen Zutaten frei nach Eichendorffscher Lyrik, war es nichts geworden mit der Eroberung des Weiblichen. Er hatte sie schließlich nach Hause bringen müssen, schweigend, nicht verzweifelt, aber um eine Enttäuschung reicher. Der Mondschein spiegelte sich auf ihrer Hose wider. Er war hinter ihr her getrottet, hatte diesen Lederarsch plastischer als sonst gesehen, hätte ihn am liebsten umarmt und fest an seine Wange gedrückt. In völliger Verwirrung der Gefühle. Denn einen Moment lang hatte er geglaubt, es sei Toms Hinterteil gewesen. Tom, der zum vierzehnten Geburtstag eine kurze Lederhose aus schwarzem Glattleder bekommen und sogar die Glückwünsche seiner Mitschüler in Form von Klapsen auf den verführerisch glänzenden Po geduldet hatte, wieder einmal als unbestrittener Star unter den Jungs seiner Klasse.



     Auch er war bei Leder am Körper geblieben. Hier trug er im Haus die grüne Lederhose, die Tom ihm als bereits ausgebuffter Lehrling angefertigt hatte. Die mausgraue aus Spaltleder war bei des Lederbengels Qualitätskontrolle durchgefallen. Jig hatte die Hose für seine obligatorisch eingetauschten Ostmark anläßlich eines Theaterbesuchs in Berlin, Hauptstadt der DDR, gekauft.
     „Heh – Trachtenzentrum Naumburg! Minderwertiges Material, an der Maschine runtergerattert“, tadelte Tom. „Meine ist überwiegend handgenäht. Nur Lederstücke vom Feinsten, überall in der gleichen Stärke. Mit Blick auf dienen Body, wie was an dir dran ist und so. In dem Höschen wirst du dich auch an miesen Tagen gut aufgehoben fühlen.“
     Die Glattlederne zeigte das deutsche Hoheitszeichen in Schwarz-Rot-Gold auf dem Messertäschchen. Keck wie seinerzeit die Embleme von Max und Moritz.
     Seine Wirtin stammte aus der Provinz Córdoba. Er wußte, die lebenslustige Witwe sah ihn gern in kurzen Hosen. Nicht weil ihr Lederhosen gefielen, sondern seine nackten Beine. Vielleicht erinnerte er sie an ihren Mann. Auf dem Fliesenboden bemerkte er eine Schabe, die vor seinen schwitzigen Füßen Reißaus nahm. Sie sprintete über einen Brief, der wohl vom Tisch hinunter geweht worden war. Luftpost aus Amerika. Mit gestempeltem Absender: Naval Air Station, Jacksonville, Florida. Erstaunt hob er den blaurot geränderten Umschlag auf und öffnete ihn.
     „Hi, Jiggy! Du wirst längst erraten haben, wen ich völlig überstürzt in meiner üblichen Unüberlegtheit geehelicht hatte. Um es kurz zu machen – Elli und ich, wir haben uns getrennt. Tut mir leid für den kleinen Tom und für meine Eltern, bei denen Elli einstweilen wohnen bleibt. Gerda, die ja eine waschechte Deern von der Waterkant ist, hat das Haus in Norddeich meiner vor einem Jahr verstorbenen Großeltern verkauft. So werden Alfred und sie künftig bestens über die Runden kommen, materiell. Und geistig sowieso – gut behütet in der Freundschaft zu Deinen Eltern. Onkel Paul hat mich als Handwerker in die US Navy vermittelt. Ich fertige speziellen Lederkram an und werde fürstlich entlohnt. Mädchen sind reichlich zu haben, also, daß ich einsam wäre, könnte ich nicht sagen. Gleich höre ich Deine Frage wegen längerer Beziehung, so im Sinne einer Deiner Lieblingsvokabeln: dauerhaft! Na ja, gebranntes Kind scheut das Feuer... Mann, Jiggy, die suchen hier händeringend Übersetzer für Spanisch! Himmel, Arsch und Zwirn – warum kommst Du nicht auch herüber? Du mit Diplom, die nehmen Dich mit Handkuß. Du könntest mich gleich begleiten. Denn nächste Woche werde ich zu ihrem Stützpunkt auf Kuba geflogen. Plus Zwirn und Nähmaschine. Schätze, sie haben da ein Camp für Spezialausbildung. Ich soll lederne Zwangsjacken in verschiedenen Größen nähen, mit Kapuzen dran, die voll übers Gesicht gezogen werden können. Und anderes Zeug zum Einschüchtern. Für die Jacken habe ich noch keine Schnittmuster. Aber Alfred brachte mir bei, wie man am Körper Maß nimmt. Da ich das bei Hosen hinkriege, wird es bei Jacken auch klappen. Schließlich ist das ganze Leben Jacke wie Hose...“
     Er lehnte sich mit einem sonderbaren Gefühl im Magen zurück. Zeug zum Einschüchtern... Das ewige Spiel, andere gefügig zu kriegen... Immerhin war jetzt klar, warum Alfred beim Telefonat vergangene Woche gefragt hatte: „Wieso treibt es euch junge Leute so weit fort?“ Tom würde seinen Weg machen. Sein Werkstoff war unerschöpflich und er beherrschte sein Fach. Tom würde sich ebensogut von den Japanern anheuern lassen, wo man eine Frau zum Fesseln lieb haben durfte. Der Lederbengel würde mit dem altmodischen Spruch einer Liaison zustimmen: „Ich bin so frei!“
     Daß die Freundschaft zu Tom wie in Transformatorspulen eine seltsam innige Beziehung ihrer Eltern induziert hatte, war zum Weinen schön. Beim letzten Besuch in der Heimat hatte er Gerda und seine Mutter plaudern und kichern sehen wie zwei Teenager. Alfred und sein Vater siezten sich offiziell, doch das war bloßes Getue. Lauschte man an der verschlossenen Tür ihren dionysischen Saufgelagen, ferkelten die beiden Satyrn wie Schmuddelkinder herum: „Ich glaube, Elge, ich muß dich mal übers Knie legen und dir mit der Wurzelbürste die Juwelen polieren.“ „Das versuch’ mal, Alfred! Dann reiß’ ich dir den Allerwertesten auf. Bis zum Genick!“

                                                         18

     Beschwingt wie eines Malers erster Pinselstrich sauste sein Bleistift nun über das bleiche Papier.

     „Der Sportlehrer, der Kürschner und sein Vater steckten unter einer Decke: Jig Elge war zu wenig Junge! Die verabredete Ertüchtigung sollte an Wochenenden in freier Natur stattfinden, wie auch im Haus des Kürschners, der seit langem der Pfadfindergruppe der Residenzstadt als Führer vorstand. Unter der Androhung, eine Weile das Taschengeld zu streichen, wurde die erzwungene Einweisung dem wenig begeisterten Kandidaten mit dem beschönigenden Wort Einladung verbrämt.
     Alfred begrüßte Jig und schob ihn gleich die Treppe hinauf ins Zimmer seines Sohnes. Jig sah sich mit Plakaten von Muskelmännern in Trainingshosen konfrontiert. Einer davon steckte von Kopf bis Fuß in Ketten.
     „Tom, du schläfst auf dem Boden! Deinem Freund gebührt das Bett.“
     Jigs Schulkamerad wartete mit unbewegter Miene, bis Alfred die Tür von außen geschlossen hatte. „He, Elge, ich mag dich nicht. Und bild’ dir keine Schwachheiten ein – mein Freund wirste nie!“
     Jig warf die Kriegserklärung zurück. „Mögen tu’ ich dich auch nicht, Thomasius. Auf Freundschaft mit Muskelprotzen pfeif’ ich.“
     Nachdem diese Präambel das Mißbehagen ins Gleichgewicht gerückt hatte, übernahm der zum Trainer bestellte Schulkamerad das Sagen. Mit verschränkten Armen dastehend, nötigte er Jig, die zerschlissene Kordhose gegen eine von seinen Ledernen einzutauschen.
     „Wird’s bald? Oder muß ich nachhelfen? Wenn ich mich schon mit dir Blödmann zeigen muß, dann keinesfalls in Clownshosen!“
     Dermaßen unerwartet entblättert, taumelte Jig die Treppe wieder hinunter, von einem derben Puff ins Kreuz beschleunigt.
     Am Kaffeetisch wurde er von Toms Eltern bei Sahnetorte und Kakao gewogen, gemessen und im Kreuzverhör durchleuchtet. Die Gegebenheit eines hellen Köpfchens verschaffte Sir Elges Sohn offenbar Punktvorteil gegenüber dem Lederbengel. Nun wurde er in dessen Verwahr überstellt. Zwecks Prüfung praktischer Brauchbarkeit.

     Bevor sie in den Wald aufbrachen, fuchtelte Tom auffällig mit seinen Handschellen herum. Jig begriff, daß der Bursche sie nicht in die Hosentasche steckte, um sie den ganzen Nachmittag spazieren zu tragen. Noch konnte er den Wochenendbesuch unter dem Vorwand von Unpäßlichkeit abbrechen. Doch irgendwie lockte dieses seinen Geist vernebelnde Abenteuer, erstmals bei fremden Leuten zu übernachten. So entschloß er sich, einstweilen durchzuhalten. Aus der Literatur wußte er, daß auch Einzelgänger andere Menschen nötig hatten, und mit Nähe zu anderen Jungs war er nicht gesegnet. Obwohl Tom offensichtlich nicht ganz bei Trost war, gefiel ihm der Lederbengel aus der Nähe zehnmal besser als in den Pausen auf dem Schulhof, wo er ständig im Mittelpunkt stehen wollte und sich eitel die Haare zurechtstrich.
     Schweigend marschierten sie durch den Wald zum Hexenteich, Tom immer fünf Schritte voraus, die Daumen auf dem Rücken in den Gürtel gehakt. Eine Handschelle lugte vorwitzig aus der Gesäßtasche. Eine Warnung, klugerweise Abstand zu halten? Nein, wohl eher die Aufforderung: ,Zieh mich raus und warte ab, was passiert. Vielleicht könnten wir uns ja über ein Spielchen näher kommen.’ Dem hätte Jig zugestimmt, vorschußweise. Aber wie sollte er Tom mit einem zutraulichen Lächeln versöhnlich stimmen? Sein Trainer schaute stur geradeaus, dahin walkend wie ein junges Nilpferd.
     Der Wald war Jigs zweites Zuhause. Niemand wußte, wie er ganze Nachmittage irgendwo im Dickicht verbrachte und an Händen und Füßen Fesseltricks übte. Im Knüpfen von Schlingen hatte er einiges drauf. Leider kam es vor, daß Knoten in der Hanfschnur mit den Fingernägeln nicht mehr aufzudröseln waren. Dann mußte sein Schweizer Messer ran. Pannen, die das karge Taschengeld belasteten. Schnur war teuer. Dünne Wäscheleine aus Plastik wurde im Kaufhaus Schild günstiger angeboten. Damit konnte man ebenso unentwirrbare Knoten erzeugen. Doch Plastik stank, während Hanf herrlich duftete. Obwohl er an der Quelle saß, war der Lederbengel der einzige in der Klasse, der keinen Tornister benutzte. Die Schulbücher schnürte er mit Lederriemen zusammen und hing das Paket an den Gürtel. Für den Kleinkram hatte er einen Lederbeutel. Einer seiner Lederriemen wäre für Spielchen das Höchste. Leider unerreichbar. Tom gab nicht ein Stückchen davon her. Weder für Geld noch für gute Worte. Als sei es seine Geheimwaffe.
     Jig, der sich gleich die Schuhe ausgezogen hatte, ging hinter einer mächtigen Buche in Deckung, kauerte sich hin und robbte geräuschlos über moosigen Boden ein Stück seitwärts ins Gebüsch. Nun hatte er den Lederbengel im Visier, ohne daß der ihn entdecken würde. Wie Jig angenommen hatte, blieb Tom irritiert stehen und drehte sich um. Weil sein Schutzbefohlener nicht mehr zu hören war. Er rief nicht nach ihm. Seine Miene verdüsterte sich. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf und setzte den Weg fort, zwar weiter in Richtung des Teiches, doch irgendwie ziellos aus dem Takt geraten. Und noch etwas fiel Jig auf. Tom wischte sich lange die Augen aus, stopfte die Handschellen ganz in die Tasche und zog den Reißverschluß zu.
     „Kombiniere“, flüsterte Jig, sein Vorbild Nick Knatterton nachahmend, „den haben wir gründlich verbiestert.“
     Nun erwog er, den Nachmittag allein zu verbringen und gleichwohl zum Abendessen im Haus des Kürschners zu erscheinen. Aber er hatte keine Schnur mit und mußte sich eingestehen, daß der Unfreund auf ihn wie ein Magnet wirkte. Also ging er hinunter zum Teich. Tom saß im Schneidersitz da und ließ flache Steine übers Wasser hüpfen.
     Jig schlich sich unhörbar an. Vielleicht hätte er versuchen können, den stärkeren Jungen mit einem Würgegriff zu überwältigen, doch erschien ihm das zu kühn. Statt dessen räusperte er sich unsinnig laut.
     Tom fuhr zusammen. „Mann, bist du fies“, sagte er. „Erst abhauen und mich dann erschrecken.“ Aber routiniert riß er den Befehl gleich wieder an sich. „Jetzt wird geschwommen!“
     „Ja, Sir.“
     Am Morgen hatte es stark geregnet und der Wasserspiegel war entsprechend angestiegen. Der Teich hatte tückische Tiefen, Nichtschwimmer mußten ihn gemäß dem verwitterten Holzschild am Eingang zum alten Steinbruch meiden. Jig hielt sich jubilierend den hocherhobenen Daumen vors Gesicht. Der Lederbengel ruderte prustend durchs dunkle Wasser. Wie eine kranke Ente. Dies war nicht sein Element. Ohne Schwimmunterricht würde er eines Tages ertrinken.
     Danach legten sie sich ins Gras. Tom begann das Verhör, indem er Jig mit ausgerupften Grashalmen bewarf, an denen noch Erdklumpen hingen.
     „Was ziehst du denn für eine Fresse? Hast wohl Bammel vor mir, wie?“
     „Nein, Sir.“ Jig war es nicht gewohnt, daß man ausrupfte, was im Boden nützlich war.
     „Oder sind Lederhosen dir feinem Pinkel zu gewöhnlich?“
     „Mitnichten, Sir. Bin kein feiner Pinkel, Sir.“
     „Mann, deine Kordfetzen reißen doch beim Raufen wie Papier. Und wir werden raufen!“
     „Fürchte ja, Sir!“
     „Hör auf mit dem albernen Sir!“
     „Ja, Ssss...“
     Verkniffen musterte Tom den Schulkameraden, den er nach dem Willen seines Vaters an diesem Wochenende zu ertragen hatte. Am liebsten hätte er ihm gleich den Arsch versohlt. Hier gab es keine Zeugen. In der Penne hatte er mit ihm noch nie gesprochen. Weil Elge zu sehr auf unscheinbar spielte, auf Rührmichnichtan. Allerdings mochte das Urteil der Mitschüler stimmen, Jig habe es faustdick hinter den Ohren. Eine Umschreibung für einen falschen Hund. Bei Schwarzhaarigen, behauptete sein Vater, müsse man stets ein Quentchen Falschheit einrechnen. Dabei war Jig appetitlich von Gestalt und zum Anfassen hübsch. Ha, das freche Grinsen würde er ihm notfalls mit einer den Krieg beginnenden Backpfeife gefrieren lassen...!
     „Heh – warst du schon mal gefesselt?“
     „Was –?“
     „Ob dir mal jemand die Pfoten zusammengebunden hat?“
     „Ähm... Nein. Ich weiß aus Büchern, wie einem dabei zumute ist.“
     Tom wieherte vor Lachen, schlug einen Purzelbaum und streckte sich noch näher neben Jig aus. Er hatte es geahnt – ein blutleerer Poet! „Gar nichts weißt du! Du weißt es erst, wenn es an dir geschieht.“
     „Klar... Versteh’ ich.“ Es hagelte größere Grasbüschel. Jig wischte sich gleichmütig die Erde aus dem Gesicht.
     „So? Das verstehst du? Wirklich?“ Auffordernd reckte Tom seine muskulösen Arme.
     Jig erschauerte ein klein wenig. Es kam ihm ungehörig vor, daß sie nach dem Schwimmen gänzlich nackt nebeneinander lagen. Das machte ihn noch wehrloser, als er sich ohnehin vorkam. Probeweise straffte er seinen Arm so mannhaft er konnte. Muskeln drückten sich keine durch. Noch ungehöriger schien ihm Toms Bemerkung, die wie ein Pfeil zwischen seine Beine fuhr und schwirrend stecken blieb.
     „Mann, mich laust der Affe! Du hast größere Murmeln als ich!“
     Daraus schloß Jig, ein Posten in der Eignungsliste sei zu seinen Gunsten abgehakt. Sicherlich hatte Tom bereits andere Jungs in der Waldeinsamkeit trainiert. Die das Format ihrer Murmeln und daraus resultierendes Durchhaltevermögen überschätzt und mit dem Wochenendbesuch verbundenen Extras wie Torte und Schlagsahne schleunigst entsagt hatten. Toms dünne Lederriemen ringelten sich im Gras, als nähmen sie bereits Maß an seinen Gliedern. ,Und wir werden raufen...!’ Er sah voraus, daß sein Schicksal in Kürze besiegelt war. Selbst wenn er sich noch so wehrte, würde er schnell unten liegen. Der kräftige Junge würde ihn so grimmig verschnüren, daß ihm Hören und Sehen verginge. Alle Viertelstunden würde er sich erkundigen, ob er aufgebe. Um die Bestellung mit einer Unterschrift beglaubigt zu kriegen. Die Einladung im Hause Kürschner war bestimmt an einen Kaufvertrag gekoppelt. Mindestens für die kurze Hose, die er schon anhatte, einen Schulranzen aus Rindsleder, zehn Dosen Lederfett, und wer weiß für welchen Kram sonst, den niemand brauchte.
     Unhörbar seufzte Jig. Fesseln lassen würde er sich ja gern. Sonst wäre er Tom kaum in den Wald gefolgt. Natürlich verstieße es gegen seine Selbstachtung, würde Tom ihn zwingen, sich zu strecken. Aber wenn er denn keine Wahl hatte, konnte er vielleicht später Toms Ehrgefühl, sich niemals einem Schwächeren zu ergeben, durchlöchern. Indem er das ersehnte Spiel, sobald er es ausgiebig genossen hatte, mit Geduld und seinem allseits anerkannt unerträglichen Gequatsche umdrehte. Schließlich besaß er ein unerschöpfliches Talent als Dreckschleuder.
     Tom mußte es ja langweilig werden, einen Gefangenen bis zum Abendessen mit Grashalmen zu bewerfen und dabei einer unaufhörlichen Wortdusche ausgesetzt zu sein. Der Anblick, daß einer sich da nach Herzenslust ausruhen durfte, würde in des Kürschners Sohn das brennende Verlangen hervorrufen, selbst gefesselt dazuliegen, die Ohren mit Sauerampfer zugestöpselt und um die Augen einen seiner roten Kniestrümpfe gebunden. „Na, gemeiner Lederbengel, wie schmeckt dir das?“ Ja, so konnte es ablaufen... Am Ende würde Tom geradezu danach bibbern, die Rollen zu tauschen. Somit würde er, Jig, nicht nur Lederhose und Lederriemen, sondern auch die aufregend vielseitigen Handschellen in seinen Besitz bringen. Unwiderruflich. Denn Tom müßte auf einem Blatt Waldrhabarber die Eigentumsübertragung mit Pisse bestätigen. Dies praktische Verfahren, bei dem man den Gefangenen zum Unterschreiben nicht loszubinden brauchte, kannte er aus dem Buch Der Kampf der Tertia. Die Hose aufknöpfen genügte. Jig kicherte.
     Ha! Der Lederbengel war nicht auf den Kopf gefallen, würde behaupten: „Ich kann jetzt nicht.“
     „Warten wir ab, bis du kannst. Aber spute dich besser! Sonst gieß’ ich dir zwei Gallonen Teichwasser in die Fresse. Wär’ Pech, wenn du ’ne Kröte mit runter schluckst. Gluck, gluck...“
     Mit Handschellen in der Hosentasche würde er künftig in der Schule zwischen jenen stehen, die den Ton angaben.
     Tom hatte die Ellbogen aufgestützt und spielte nun auffällig mit den Handschellen, ratschte sie auf und zu. Dabei grinste er hinterhältig.
     Jig sagte: „Äh, wenn ich gleich in die Mangel muß – also, dann ziehe ich mich besser an.“
     „Muß nicht gleich sein, Elge. Vielleicht baden wir zuerst noch mal. Ist ja verdammt heiß heute. So heiß, daß es dir bestimmt gefällt, wenn ich dich ’ne Weile untertauche. Im Würgegriff, versteht sich. Mann, so was Verruchtes wie dich hab’ ich noch nicht erlebt – Schlachtpläne halblaut vor sich hin plappern und so!“



     Auf einer Lichtung im Hochwald war es dann glimpflicher als befürchtet abgelaufen. Vielleicht, weil Jig plötzlich Spaß daran fand, sich mit allen Kräften zu wehren und Toms Bemühen, ihn zu überwältigen, solange wie möglich hinzuziehen. Denn unerwartet tat Tom ihm nicht weh, jedenfalls nicht absichtlich. Es war erregend, immer fester umschlungen zu werden und sich unvermeidlich dem Wohl und Wehe eines anderen Jungen ausliefern zu müssen. Der Lederbengel sparte nicht mit Anerkennung, als er ihn schließlich an Händen und Füßen gefesselt hatte. „Mann, so schwach, wie ich dachte, bis du gar nicht. Und du verträgst was! Macht unheimlich Spaß mit dir.“
     Die Zeremonie, Freundschaft zu schließen, die Tom unerwartet mit roten Backen vorschlug, als die Sonne bereits lange Schatten warf, hatte Jig weniger gefallen. Tom hatte ihm die Dornen einer Brombeerranke derb in den Unterarm gerammt und in den eigenen, um hernach ihre blutenden Arme aufeinander zu legen. Befremdlich war, daß Tom dabei zu schluchzen begann, unhörbar, aber mit nassen Augen. Schließlich sagte er schniefend: „Jetzt bist du dran – freiwillig hab’ ich mich noch nie fesseln lassen.“ Toms bildschöne marmorne Arme zusammenschnüren? Fuh! – Jig wurden die Knie weich. Um zu beweisen, daß er vom Gefangennehmen was verstand, hatte er Toms Hände auf dem Rücken mit einem Riemen straff über Kreuz gebunden und mit einem zweiten am Gürtel festgezurrt. Konnte sein, daß Tom dabei wieder geheult hatte. Jedenfalls litt er es ohne ein Widerwort, derart gefesselt durch den Wald und die Residenzstadt eskortiert zu werden, die Schuhe um den Hals gehängt. Als wäre er in frisch hinzugewonnener Demut stolz darauf, Jigs Gefangener zu sein.
     An der Haustür liefen sie geradewegs dem Kürschner in die Arme. Der starrte verblüfft auf die Jungen. Jig war darauf gefaßt, es würde ein Donnerwetter setzen.
     Doch Toms Vater grinste nur. „Seid ihr mitten durch den Ort marschiert?“
     „Ja, Sir!“ bestätigte Jig.
     „Also hat man dich so gesehen, Tom?“
     „Schande, ja“, knautschte Tom heraus.
     Der Kürschner schüttelte den Kopf. „Also, ich hab’ dich doch kaum je dazu bringen können, wenigstens mal im Wald barfuß zu laufen.“
     Tom erklärte: „Jiggy quatschte mich ohnmächtig. Hat mir die Schuhe weggenommen.“
     „Ach so? Und er darf dich fesseln? Das läßt du dir gefallen?“
     Tom zuckte die Achseln. „Was kann ich machen, Pa!? Der Knabe verdreht einem die Arme, daß es nur so knirscht. Hab’ Jiggy unterschätzt.“
     Seltsam berührt ging der Kürschner in seine Werkstatt. Obwohl er ständig mit Jungs dieses Alters zu tun hatte, blieben sie ihm ein Rätsel. Vor wenigen Stunden hatten Tom und Jig sich lautstark versichert, sie würden nie Freunde werden. Nun verständigten sie sich mit verschämten Blicken, als hätten sie sich soeben verlobt. Unübersehbar waren hier zwei Einzelgänger voneinander fasziniert. Er grinste. Für die Freundschaften unter Pfadfindern galt: Mit Speck fängt man Mäuse. Blieb abzuwarten, wer hier wen einfing.
     Als müde Krieger waren die Jungen Seite an Seite in Toms Bett eingeschlafen. Durch Jigs Träume geisterte Tom. Der außer der Lederhose nichts anhatte. Plötzlich knöpfte er den Latz auf. An seinen Beinen rutschte sie langsam zu Boden. Jig starrte auf den Körper seines neuen Gefährten, der in kleinerer Gestalt einem der athletischen Helden auf den ganzseitigen Bildern aus den Sagen des Klassischen Altertums glich. So hätte er auch gern aussehen mögen. Und wenn er nicht so aussah oder nicht ganz so, besaß er immerhin die größeren Murmeln. Was Tom aufgrund seiner vielseitigen und umfassenderen Erfahrung mit unüberhörbarem Neid in der Stimme beglaubigt hatte. Gleich überdeckte ein lebhafteres Bild diesen Traum. Er hatte dem schläfrigen Tom Hand-, Fuß- und Kniefesseln verpaßt, ihn über die Schulter geworfen, die Treppe hinunter geschleppt und im Garten ins Zelt geschmissen. Dann hatte er alle Schnüre von den haltenden Pflöcken gelöst, so daß Tom unter dem Segeltuch der zusammenstürzenden Zeltbahnen begraben wurde.
     „Hilf mir doch!“ brüllte Tom.„Zieh mich raus, bevor ich ersticke.“
     „Schenkst du mir deine Handschellen?“
     „Ja.“
     „Auch deine  neue Lederhose zur alten dazu?“
     „Ja doch!“
     „Krieg’ ich sämtliche Lederriemen?“
     „Ja, ja, ja!“
     „Und... – wirst du trotzdem mein Freund bleiben?“
     „Was bleibt mir anderes übrig?“
     „Eben...! Dann geh’ ich jetzt die Urkunde zur Eigentumsübertragung aufsetzen.“
     Er hatte den hilflosen Tom zetern lassen, war ins Haus gegangen und die Treppe hinaufgeschlichen, breitbeinig die Füße in die Ecken der Stufen setzend, unhörbar für Toms Eltern, die einen leichten Schlaf hatten. Im Dachzimmer ankommend, war er überhaupt nicht erstaunt darüber, daß Tom sich wohlig in den Kissen räkelte und kicherte: „Na, Jiggy? Ein Bammelanfall? Warst du Fluchtwege erkunden?“

     „Reizender Jig!“ säuselte Tom am nächsten Morgen, als sei er Eva-Lotta und spreche zu Kalle Blomquist. „In meinem Bett ham wa uns ja gut vertragen. Also, im Ferienlager bei die Pfadfinder, wir zwei beiden tagelang in ’nem lütten Zelt – wirste das auch hinkriegen?“
     „Ja“, hauchte Jig.
     „Klingt nich überzeugend“, urteilte Tom. Da sprach ein hellwacher, mit beiden Beinen fest im frühen Tag stehender Junge, der Wörter achtlos zerknüllende Tom, geizend mit einzelnen Buchstaben, hingegen großzügig mit Verneinungen. „Ich mein’ mal, wär’ keine gute Idee nich, wenn du ’n Teddybären zwischen uns nich entbehren kannst.“
     Jig sah seinem Freund belustigt in die Augen. Er klemmte den Zeigefinger zwischen die Zähne, begann zu lächeln. „Du bist mein Teddy. Also benimm dich auch so. Falls du anfängst zu fummeln – ich denke, du weißt, was ich meine –, wirst du jede Nacht in Handschellen schlafen. Klar, Mann?“
     „Klingt schon frischer“, stöhnte Tom erleichtert.
     Erst Jahre später wurde Jig bewußt, daß an jenem Tag, da er jede Stunde mit Tom doppelt und dreifach gespürt hatte, seine Knabenidee, Dichter zu werden, jenseits der eindringlichen Abenteuer mit dem Lederbengel verblaßt war. Mehr noch – in jener ersten Nacht in Toms Elternhaus, wo Tom und er sich vollkommen arglos aneinandergeschmiegt und sonst in keiner Weise berührt hatten, war seine Kindheit zu Ende und seine Unschuld den Bach hinunter gegangen.“

     An der Zimmertür klopfte es. „¡Adelante!“ Seine Wirtin steckte den Kopf herein. „¡Teléfono! Su jefa, parece.“ „¿A esta hora – tan tarde?” Die Andalusierin zuckte die Achseln. Seufzend schlug Jig das Heft zu. Selma, Gräfin von Soria, würde ungeniert selbst um drei Uhr nachts anrufen. „Ya voy.“


                

 

                                                Nachbemerkung
                        
      Zwei Charaktere erscheinen mit richtigem Namen. Selma starb 1975 an Magenkrebs. Paco wurde auf der Plaza Cibeles von einem Auto angefahren und fortan dem Innendienst zugeteilt. Er verfiel der Trunksucht und erlag bald einem Herzanfall.

      Robs Spur verlor sich nach abgesessener Jugendhaft. Seine Schwester Elli verliebte sich in einen Kanadier und wurde in Vancouver heimisch. Sohn Tom hatte wie sein Vater weder Bock auf Schule noch auf große Städte. Er wechselte in die klimatisch angenehmeren USA, diente redlich den Pflichtpart beim Militär ab und abenteuerte hernach als Stuntman durch die MGM Studios. Ein Lotteriegewinn erlaubte ihm und seiner Frau, sich nach der Midlife-Crisis auf Hawaii niederzulassen. Von Pitt weiß Elli, daß er die Fremdenlegion heil überstand. Er verzehrt seine französische Pension in Marseille.

      Gerda, Alfred und das Ehepaar Elge waren stets in enger Gemeinschaft verbunden. Wie so viele, die zwei Weltkriege überstanden hatten, erreichten sie bei weitem nicht das ihnen von der Statistik in Aussicht gestellte Durchschnittsalter, genossen jedoch ein ungemein reiches und intensives Leben.


  Toms Gemüt verdüsterte sich für eine Weile, nachdem er dahintergekommen war, welchen Grad der Einschüchterung sein solide genähtes Zeug ermöglichte. Mit Verschwörungstheorien im Kopf verließ er die US-Army. Er mietete ein Häuschen am Naturpark Reinhardswald, um sich neu auf seine Fähigkeiten zu besinnen. Nach der Begabtenprüfung studierte er Pädagogik in Göttingen. Als Volksschullehrer an ländlichen Schulen im Weserbergland, später in der Lüneburger Heide, blieb ihm der brutale Umschwung, multikulturelle Klassen unterrichten zu müssen, weitgehend erspart.

    Max und Moritz schlitterten in eine glühende Freundschaft mit Jig. Er freute sich neidlos an ihrer körperlichen und geistigen Überlegenheit, die sich unter anderem im brillanten Schachspiel äußerte, bei dem auch Sir Elge gelegentlich passen mußte. Elges Sohn, dem Vater und Mutter die Liebe zur Literatur in die Wiege gelegt hatten, traf in puncto Belesenheit bei Max und Moritz auf zwei Ebenbürtige, mit denen es nie langweilig wurde.      

    Nach dem Studium verliebte sich Jig gleichzeitig in die Méditerranée und in ein Mädchen. Die beiden gerieten auf einer Insel im Meer der Weisheit in die sanften Fänge der Hippiebewegung. Daraus resultierendes einfaches, künstlerisch und spirituell ausgerichtetes Leben haben sie beibehalten.





© Harald V. Bergander, 2014 · Den Administratoren von <www.handschellen-forum.de> gilt ein herzliches Dankeschön für den zur Verfügung gestellten Platz. Die Erstveröffentlichung erfolgte dort in 31 wöchentlich erscheinenden Folgen zwischen August 2014 und März 2015 · Alle Rechte vorbehalten · Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Gegebenheiten sind rein zufällig · Das Einstellen dieses Textes auf anderen Internetseiten, auch auszugsweise, erfordert die Zustimmung des Autors · Rechtschreibung nach Duden, 15. Auflage 1961