Harald V. Bergander  ·  Archie's Room

 

I

 

 Ohne einen Schluck Kaffee gleich nach dem Aufstehen war er nur ein halber Mensch. Er wußte nicht, ob er schon Herr seiner Füße war, ob sie nicht einfach den anderen nachtappten und stehen­blie­ben, wenn die es taten. Der hundekalte Morgen, die halb durchwachte Nacht – im Grunde war es diese Reminiszenz nicht wert, der er sich da hingab. Damals war es seine erste Reise mit Jane gewesen, und Jane...

 „Würden Sie bitte die Tasche öffnen, Sir!“

 Verblüfft betrachtete er den Beamten. Niemand hier hatte ihn je mit Sir angesprochen. Mechanisch öffnete er den Reißverschluß seiner braunen Reisetasche, sah zu, wie behaarte Finger in der Wäsche wühlten und einen Kreidestrich auf das Leder schnörkelten. Dunkle Augen gaben zu verstehen, er dürfe passieren.

 Bob nahm die Tasche auf und den Koffer und marschierte durch die Zollhalle. Nach einem Blick in die leere Bar, in der ein alter Kellner mit hochgekrempelten Hemdsärmeln das Geschirr vom Vortag spülte, steuerte er auf den Fahrkartenschalter zu.

 „Sagen Sie, hat Rafael Dienst?“

 Der Mann sah ihn kurz an. „Welcher Rafael?“

 Bob überlegte. „Wie er weiter heißt, weiß ich nicht. Ich glaube, er ist für Auskünfte zuständig. Auf dem Bahnsteig.“

 „Ach, Rafi! Der ist seit einem Jahr in Pension.“

 „Oh.“ Bob fuhr sich über das unrasierte Gesicht. Ausgeschlafen war er nicht. Vielleicht hätte er ein Bettabteil nehmen sollen statt des Liegewagens. „Wissen Sie, wo er wohnt? Ich hab’s vergessen.“

 Der Beamte hob die Augenbrauen. „Er lebt nicht mehr hier. Der Chef wird die Anschrift haben.“ Grinsend setzte er hinzu: „Kommt erst um zehn. Oder Sie fragen den Kellner in der Bar.“

 Bob wandte sich wortlos ab. Also war Rafael viel älter gewesen, als er angenommen hatte. Damals waren sie spätabends mit dem Zug gekommen, Jane und er, und hatten kein Hotelzimmer finden können. Es war nicht ihre Hochzeitsreise gewesen, also hätte man mit harten Bahnhofsbänken vorlieb nehmen können und er wäre damit zurechtgekommen. Die kapriziöse Jane kaum. Da hatte Rafael ihnen sein Schlafzimmer angeboten, in einer winzigen Dienstwohnung. Er konnte sich erinnern, mit Jane im Getöse rangierender Diesellokomotiven die halbe Nacht gestritten zu haben. Eigentlich hatten sie gar kein Bett gebraucht.

 Übermüdete Gestalten schlurften aus der Zollhalle. Die Bar bot einen trostlosen Anblick, doch war sie halbwegs warm. Er nippte am dünnen Kaffee. Die dickwandige Porzellantasse roch nach Abwaschmittel. Ärgerlich steckte er sich eine Zigarette an. Schurken! Alle anderen Bars in diesem Nest an der Grenze schliefen noch, das nutzten sie aus. Jane war auf mangelhaft gespültes Geschirr allergisch gewesen. Bon Dieu, mit Jane hätte er die wei­te Reise quer durch Frankreich per Bahn nicht machen können. Kein Wunder, daß der gemeinsame Lebensweg entsprechend kurz ausgefallen war. Bekräftigend nickte er.

 Junge Leute schlenderten herum, deren Rucksäcke an den Ti­schen lehnten wie hungrige Ungeheuer. Er zu seiner Zeit – so hät­te er nicht in fremde Länder fahren mögen, mit Kochgeschirr und einem kompletten Gasherd auf dem Buckel. Damals waren auch die billigen Bars einwandfrei gewesen, gemessen an der dünnen Brühe hier in der Kaffeetasse. Der Alte hinter der Theke starrte ihn an, als spürte er den Tadel.

 Bob stand auf. „Noch einen. Bitte mit mehr Milch.“ Während er die Tasse hingeknallt bekam, sagte er: „Wo kann ich Rafael finden? Den Aufsichtsbeamten vom Bahnsteig.“

 „Der is’ weg von hier.“

 „Ja, schon gehört. Könnten Sie die Adresse rausfinden?“

 Das zerfurchte Gesicht mit dem riesigen Leberfleck über dem Jochbein blieb reglos. „Können Sie das nich’ selbst?“

 „Ich als Ausländer?“ Er zahlte mit einem Tausender. „Stimmt so. Falls Sie’s nicht rauskriegen, egal. Schreiben Sie mir ihre Telefonnummer auf. Ich rufe Sie gelegentlich an.“ Er schob ihm sein kleines schwarzledernes Notizbuch aufgeklappt hin.

 Der Alte gehorchte stumm und wandte sich nach einem langen Blick auf den morgendlichen Bittsteller wieder der Arbeit zu.

 Was trieb ihn zu solchem Eifer wegen eines Menschen, den er ein einziges Mal gesehen hatte? Die ewige Gründlichkeit? Oder die Neugier, einen x-beliebigen Zeugen mit Lebenserfahrung zu fragen, was er von Jane gehalten hatte? Pah, wie kokett! Was hatte er von Ja­ne gehalten? Was hielt er von sich selbst?

 Verdrossen stapfte er durch die Unterführung. Ein schadhaftes Rohr hatte eine Überschwemmung angerichtet und der Abfluß war offenbar verstopft. Es zwang ihn zu Storchenschritten. Die schmalen roten Sitze im Regionalzug boten Platz, der für Zwerge berechnet schien. Ein gräßlicher Morgen.

 Endlich begann die Fahrt. Zwischen den Pyrenäentunneln erblickte er das spiegelglatte leuchtende Meer, über dem die Sonne aufging. Besänftigt die Augen schließend, richtete er das Gesicht in die wärmenden Strahlen. Damals waren sie im Dezember, ebenso am achten, doch zu späterer Stunde von der Sonne geweckt worden. Ein Gedenktag: Jane hatte in der Morgenröte Bud­dhas Erleuchtung, mit gekreuzten Beinen sitzend, Reverenz erwiesen. Metaphysische Ge­danken so früh am Morgen ließ er nur widerwillig zu, und merkwür­digerweise hatte er an den Tod denken müssen. Jane in ihren teuren Klamotten und schweren Parfüms... Eine ewig Lebende. Es hatte komisch angemutet, wie sie kerzengerade im Bett saß, in den eisenfarbenen Himmel starrte und sich die Nase an der Fensterscheibe förmlich plattdrückte, um Buddhas Morgenrot nicht zu versäumen. So et­was roch nach Flucht. Aus der Leere eines hektischen Daseins in abgehobene Sphären. Flucht vor einem realen Gegenüber. Er war jetzt so freimütig zuzuge­ben, daß Jane auf der Flucht vor ihm gewesen war, dem Dar­winisten, für den große Geister, rein biologisch be­trachtet, sich in nichts von anderen Men­schen unterschieden. Wie auch beschaffen, stellten sie ein unschein­bares Glied in der Entwicklungsreihe der höheren Wirbeltiere dar.

 Figueras. Er zerrte sein Gepäck durch den engen Mittelgang. Beim Aussteigen meldete sich mit leichtem Schmerz die Hüfte. Passierte in letzter Zeit häufiger. Die Götter drängten ihn, sich über das Alter Gedanken zu machen. Er hatte nicht den Wunsch, alt zu werden, und im übrigen nie geglaubt, mit seiner Kriegskindkonstitution ein mäßiges Alter überschreiten zu können.

 Auf dem Bahnhofsplatz schaute er sich um. Die paar Leute, die mit ihm ausgestiegen waren, verliefen sich rasch. Die unzuverlässige Emilia war natürlich nicht gekommen! Er schlenderte hinüber zur Busstation. Der erste Bus ging um neun. Falls Emilia verschlafen hatte, würde sie sich vor zehn oder elf sowieso kaum erheben. Zurück im Bahnhof, sperrte er das Gepäck in ein Schließfach. Vor allem brauchte er jetzt ein ordentliches Frühstück.

 Nein, er wandelte nicht auf den zuwachsenden Pfaden gemeinsa­men Lebens mit Jane! Aber warum nicht die Cafetería im Jugendstil an der Rambla aufsuchen? Zügig marschierte er los und fand sie gleich. Wie damals standen die Stühle einladend in der Sonne. Von wegen frühere Pfade! Im Gegenteil, sein wohlbedachter Versuch, der Heimat den Rücken zu kehren, stellte einen Bruch mit der Vergangenheit dar.

 Die Spiegeleier bekam er so, wie er sie gern hatte, halbflüssig. Er kicherte vor sich hin, während er sich den Mund abwischte: Hier hatte sich Jane an einer vorstehenden Niete des Aluminiumstuhls das Kleid zerrissen, genauer gesagt, seitlich von der Hüfte abwärts aufgeschlitzt. Es hatte ihr nolens volens für kurze Zeit jene weibliche Laszivität verliehen, für die er ungemein empfänglich war.

 Mit dem Rückweg verschätzte er sich. Der Bus fuhr ihm vor der Nase davon. Eine weitere Stunde Wartens wurde fällig, die er unter den Platanen zwischen Bahnhof und Busstation absaß. Zwei halbwüchsige Schlingel schlichen auffällig herum, so daß er Koffer und Tasche direkt vor sich stellte und die Beine darüber legte.

 Im Bus kam ihm der Verdacht, sich auf Umwegen zu befinden. Ein Blick auf die Karte bestätigte es: Er war mit der Bahn zwei Stationen zu weit gefahren. Und in Rosas mußte er hören, nach Prats gebe es keinen Bus. Waren sie damals in Rosas gewesen, Jane und er? Die Erinnerungen verschwammen. Die alte Stadtmauer schien ihm unbekannt. Janes Interesse hatte römischer Kunst gegolten, Mosaiken irgendwo am Meer, Museen in der Provinzhauptstadt. Am Rückgrat katalanischer Baukunst, den herrlichen romanischen Kathedralen und Klöstern, war sie achtlos vorübergegangen.

 Auf der Suche nach einem Telefon trat er in den erstbesten Laden. „Verzeihen Sie, kann man nach Prats ein Taxi bekommen?“

 Eine weißbeschürzte, beleibte Frau spähte über Glasaufbauten, unter denen Gebäck lag. „Nach Prats –? Also, gegen Mittag hätten Sie einen Bus.“

 „Es fährt keiner“, knurrte Bob.

 „Doch. Der Schulbus.“ Eine Dunkelblonde mit vollgepackter Strohtasche über der Schulter betrachtete ihn belustigt. In ihren Fingern klingelten Autoschlüssel. „Sie können mit mir fahren, wenn Sie mögen.“

 Etwas dümmlich stotterte Bob: „Sie haben den gleichen Weg?“

 Sie lächelte. „Wo wollen Sie hin, in Prats?“

 Er schluckte. Ohne Emilia, deren Anschrift er nur unter postlagernd kannte, war er aufgeschmissen. „Ich weiß nicht. Meine Cousine hatte mich in Figueras vom Zug abholen wollen. Und hierher habe ich mich irgendwie verirrt.“

 Seine Helferin lachte. „Kommen Sie! Wir werden es bestimmt finden.“

 Wieder nahm er sein Gepäck auf, das immer schwerer wurde. Sie schritt voran, ohne sich umzudrehen, über die Straße zur Strandpromenade, Dort schloß sie einen Wagen auf, der wie ein Mistkäfer geformt war.

 „Stellen Sie das Gepäck auf den Rücksitz. Im Kofferraum müßte ich erst Ordnung schaffen.“

 Ihm war unbehaglich. Gern ließ er sich von Frauen nicht chauffieren. Gewiß, Janes Weigerung, den Führerschein zu erwerben, hat­te gelegentlich viel Zeit gekostet, und ihre Manie, sich die Beifahrertür von ihm öffnen und schließen zu lassen, entsprach der umständlichen Ga­lanterie vergangener Zeiten. Abgesehen davon war es ihm ganz recht gewesen, das Steuer in der Hand zu behalten.

 Zügig fuhren sie den Bergen entgegen. Wiesen in saftigem Grün flogen vorbei und Rebenäcker, wo Frauen, verborgen unter breitkrempigen Strohhüten, gebückt arbeiteten.

 „Bitte, wie heißt Ihre Cousine?“ Sie fischte Zigaretten aus der Handtasche, zündete eine an und hielt ihm die Packung hin.

 „Danke.“ Bob schüttelte den Kopf. „Emilia. Emilia Bisbal. Das Haus muß am Dorfrand liegen. Zwischen zwei Hügeln.“

 Überlegend sog sie den Rauch ein. „Fragen wir meine Freundin. Sie lebt schon länger in Prats.“

 Charakter hat das Dorf nicht, war sein erster Eindruck. Doch der Blick auf die Pyrenäen tat dem Auge wohl. Die lavendelfarbenen Kuppen erinnerten an die Berge Schottlands, obzwar er selten ein so ungewöhnlich helles Blau über ihnen gesehen hatte.

 In einer schmalen Straße stieg seine Fahrerin aus. Sich zurücklehnend, kurbelte er das Fenster herunter. Orangenblütenduft! Über einer Mauer hingen Äste, an denen noch Früchte baumelten. Blüte und Frucht nebeneinander, das dünkte ihm perfekt wie Mut­ter und Kind. Er musterte die Gebäude: verlassen und verfallen. Hoffentlich besaß Emilia nicht so einen Schuppen. Ihre Schilderungen entbehrten gelegentlich der Realität. Mißmutig rückte er sich zurecht.

 Die Dunkelblonde kam mit einer Hennafarbenen zurück, die ohne zu grüßen fragte: „Haben Sie außer dem Namen keinen An­halts­punkt?“

 „Nein.“ Bob sah sich tagelang im Hotel nächtigen, bis Emilia und er es schaffen würden, Kontakt aufzunehmen. Er mußte lächeln, da die beiden Frauen sich auf Englisch berieten. „Ich bin Bob. Tut mir leid, daß ich Ihnen Umstände mache.“

 Die Dunkelblonde lächelte gewinnend zurück. „Machen Sie gar nicht. Ich bin Rosemarie.“

 „Lucy.“ Die Stimme ihrer Freundin klang höllisch reserviert.

 Etwas ratlos meinte er: „Vielleicht sollte ich auf der Bürgermeisterei fragen!? Das Haus gehört schließlich meiner Cousine.“

 „Hat sie’s schon lange?“ fragte Lucy.

 „Ich glaube nicht.“ Er überlegte. „Sie ist selten hier.“

 „Dann nützt es wenig, die Gemeinde zu löchern. Dauert oft Jahre, bis die alten Besitztitel geändert werden. Gehen wir zu Es­can­dell. Der wird’s schon wissen... Wir können zu Fuß gehen“, setzte sie auf­fordernd hinzu.

 Zögernd hob Bob die Tasche vom Rücksitz.

 „Lassen Sie das Gepäck ruhig da“, sagte Rosemarie. „Hier stiehlt niemand.“

 „Die Tasche habe ich immer bei mir.“

 „Geld gehört auf die Bank“, riet Lucy spöttisch.

 Schweigend folgte er den Frauen. Escandell erwies sich als Bezeichnung für eine große Bar im Ortszentrum mit zwei leeren Tischreihen auf dem Trottoir. Im Hineingehen schlug Bob der metallene Fliegenvorhang um die Ohren. Auch der Innenraum, groß wie ein Saal für Tanzturniere, war leer. Bob schien, das Dorf war unbewohnt oder wollte, menschlich gesehen, mit ihm nichts zu schaffen haben. In der Küche zischte Fett auf. Lucy klatschte und rief Unverständliches. Ein gro­ßer, kräftiger Mann verdunkelte den Durchgang zur Kü­che. Er wischte sich die Hände in der Schürze ab.

 „Morgen, Juan. Kennst du eine Emilia, die irgendwo außerhalb ein Haus besitzt und selten drin wohnt?“

 Der Wirt taxierte Bob, dessen Kleidung, die Tasche. „Morgen al­lerseits! Kommen Sie von der Versicherung?“

 Bob fühlte sich immer unbehaglicher. „Hören Sie! Die Dame ist meine Cousine. Ich werde in den nächsten Monaten ihr Haus bewoh­nen. Sie wollte mich in Figueras abholen. Wir müssen uns verfehlt haben.“ Bei jedem Wiedersehen mit der iberischen Halbinsel war er über sein nahezu akzentfreies Spanisch froh.

 Escandell schaute ihn versonnen an. „Emilia ist abgereist. Sie hat mir vorgestern die Schlüssel für einen Herrn aus London dagelassen. Dürfte ich um Ihren Namen bitten?“

 „Robert Morgan.“

 Der Wirt langte unter die Theke und schob ihm einen Umschlag zu. „Ich bin Juan. Herzlich willkommen! Was möchten Sie trinken?“

 „Oh, vielen Dank!“ Er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum Emilia ihn nicht persönlich verständigt hatte. Vor drei Tagen hätte sie ihn noch in Paris erreichen können.

 „Vielleicht Kaffee?“ regte der Wirt an. „Oder Orangensaft? Den hätte ich frisch gepreßt.“

 Bob begriff, daß er nicht ablehnen konnte. Vermutlich war Es­candell mit seiner Bar der einzige weit und breit. „Ein Glas Orangensaft. Gern.“

 „Und die Damen?“

 Rosemarie bestellte gleichfalls Orangensaft, Lucy einen Brandy. Es schauderte Bob. Eine Frau, die am hellen Morgen zu so was Hochprozentigem griff. Der Wirt hatte ihr das Glas kaum hingeschoben, da schüttete sie die Ladung mit perfektem Schwung in die Kehle. „Noch einen, Juan.“

 Gleichmütig schenkte er nach.

 Lucy kippte die Hälfte in Bobs Orangenjuice und hob ihr Glas. „Cheers, Landsmann! Auf deine schwermütigen Augen.“

 Mechanisch prostete Bob ihr zu. Eine Woge fatalistischer Gelassenheit breitete sich in ihm aus, wie immer, wenn er südliche Länder betrat. Diese Lucy mußte man nicht unbedingt bereits zum Frühstück treffen. Sah halbseiden aus. Zerknitterter Rock bis knapp unter den Po. Schuhe mit Stöckeln wie Eispickel. Sie erinnerte ihn stark an ein Mädchen aus Glasgow. Der erste Seitensprung in seiner Ehe – der Teufel mochte wissen, wie Jane dahintergekommen war. Rosemarie gefiel ihm. Eine biedere Deutsche in kanariengelben Hosen mit grünen Blumen drauf. Allerdings schminkte sie sich ein bißchen grell.

 Rosemarie ließ sich von Juan die Lage des Anwesens beschreiben. „Sollten wir nicht hinauffahren?“ fragte sie höflich. „Sie werden nach einer Nacht in der Eisenbahn müde sein.“

 „Eigentlich nicht.“ Plötzlich erahnte Bob die nach ihm greifende Einsamkeit. Ein leeres Haus in einem winzigen Dorf. Keine Menschenseele, die er kannte.

 Lucy schien seine Überlegungen zu erraten. „Ihre Cousine hat sich den richtigen Platz ausgesucht. Rosas ist im Sommer herrlich betriebsam, Figueras auch im Winter, und das Dorf hier ist der passende Ruhepunkt. Wird dir gefallen, Landsmann.“

 Sie starrte ihn so unverhohlen neugierig an – er kannte diesen Typ Frau: krampfhaft bestrebt, monotone Tage mit einem besonderen Erlebnis festzunageln. Unbewußt fuhr er mit der Zunge über die ausgedörrten Lippen.

 „Also?“ fragte Rosemarie. „Fahren wir?“

 „Gern.“ Er kam sich trottelig vor mit der Aktentasche, dem Schlüsselkuvert in der Faust und dem altmodisch taillierten Regenmantel, zumal das Ding ständig raschelte. Vielleicht hätte er sich einen Anorak mit Kapuze kaufen sollen, wie er ihn in seiner Studentenzeit getragen hatte. Jane hatte ihn später elimi­niert. Nicht schicklich. Nach ihrer Übersetzung: nicht standesgemäß. Jane, Lehrerin an einer höheren Mädchenschule mit einem bewundernswert männlichen In­tellekt. „Was bin ich schuldig?“

 Escandell hob abwehrend die Arme. „Ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.“ Überlegend betrachtete er Lucys Glas.

 Bob erwog, trotz der Einladung einen Schein auf die Theke zu legen. Dann dachte er, es sehe kleinlich aus, er würde es bald auf an­dere Weise ausgleichen können.

 Notgedrungen quetschte er sich wieder auf den Rücksitz, saß mit schräg gestellten Beinen und sah die Häuser des Ortes vorbeiziehen. Villen­ähnliches war nicht darunter. Die beiden Frauen berieten über die Richtung und bogen in einen steinigen Weg ab, der in die Berge führte. Ihm kam vor, sie seien längst in der Wildnis, da gab die näch­ste Biegung den Blick auf Emilias Anwesen frei, ein zweistöckiges Haus, in einem Hügeleinschnitt gelegen. Abweichend von den meisten Bauten im Dorf war es völlig in Weiß gehalten, mit Flachdach und hohen Fenstern, alle durch grüne Läden verlegt. Ein Haus mit viel Platz rundherum und ohne Zäune. Entschieden mediterraner Stil, befand er. Seine Cousine hatte gut gewählt.

 Rosemarie hielt nahe der Haustür. „Zauberhaft“, hauchte sie. „Seh’ ich zum ersten Mal. Sie sind zu beneiden.“

 Geschmeichelt riß Bob das Kuvert auf. Der Schlüssel drehte sich quietschend, und die Tür gab erst bei einem kräftigen Tritt nach. Er wandte sich um. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.“ Ungeschickter hätte er den beiden Frauen kaum bedeuten kön­nen, sie seien nun entlassen.

 „Oh“, kicherte Lucy. „Ich wüßte, wie.“ Sie schwankte. „Irgend­was findet sich selbst in wenig bewohnten Häusern. Und wenn es Mineralwasser wäre. Ich bin durstig.“

 „Nicht doch, Lucy“, sagte Rosemarie. „Ich muß zurück. Der Junge kommt heute zeitig aus der Schule.“

 „So. Der Junge.“ Lucy verzog den Mund. „Kümmerst du dich wieder mal um ihn?“

 Rosemarie errötete. „Wir wollen nach dem Essen ans Meer fahren, eine Stunde sonnen.“

 Du willst sonnen. Und er muß mit. Sonst...“

 Die Deutsche schob ihre widerstrebende Freundin zum Auto. Aus der Handtasche suchte sie ein Kärtchen hervor. „Ich will mich nicht aufdrängen, aber auf die Hilfe Ihrer Cousine können Sie wohl einstweilen nicht zählen. Falls Sie Probleme kriegen, rufen Sie mich ruhig an.“

 „Wirklich sehr nett“, dankte Bob. „Sobald ich halbwegs eingerichtet bin, würde ich mich freuen, mich revanchieren zu dürfen.“

 „Darfst du, Landsmann“, sagte Lucy. „Mein Gott, wie verstaubt Sie sich ausdrücken! Sir!“ Die Türen knallten zu. Der Wagen holperte in einer Staubwolke den Weg hinunter.

 „Huh!“ Er bewegte lockernd die Arme, ging ins Haus, öffnete die Fenster und entriegelte die Läden. Etwas verloren trippelte er durch den langen Wohnraum, den die Treppe ins Obergeschoß vom Eßraum abtrennte. Dann riskierte er, auf unliebsame Entdeckungen gefaßt, einen Rundgang: Küche mit Unmengen an Geschirr und Töpfen, ein Vorratsraum, Toilette und Dusche, zwei niedliche Schlafkammern, in jeder ein Doppelbett. Im ersten Stock gab es ein Arbeitszimmer mit Bücherstellagen, auf denen neben Krimis in Spanisch und Englisch Weinflaschen eingelagert waren, einen Sa­lon und zwei große Schlaf­zimmer, eines davon mit direktem Zugang zum Bad, hier mit einer vierfüßigen Wanne. Auf einem Tischchen neben der Haustür fand er mehrere beschriftete Schlüssel und die Notiz: ,Bei allgemeiner Ratlosigkeit hilft Toni Ribas, Arrabal d’els guan­ya­dors.’ Bob lächelte. ,Vorstadt der Sieger’. Ein Ort mit solchen Straßennamen konnte nicht der schlechteste sein.

 Er machte sich auf die Suche nach der Garage, lief um das Haus herum in eine Wiese, übersät mit flammend rotem Klatschmohn. Zwischen Korkeichen stapfte er den Hügel aufwärts und hielt unwillkürlich den Atem an – ein grandioser Ausblick! Entlang der Bergkette an die Hänge geschmiegte Ortschaften, über dem Meer auf­steigende Kuben in Weiß, das mußte Rosas sein. Nach Süden hin weite Felder. Hohe Berge gegen Westen, davor die Kulisse einer verfallenen Burg. Es schien ihm der richtige Platz zum Arbeiten und Ausruhen. Zum Nachdenken. Und um Feste zu feiern.

 Die Garage lag hinter Efeu und blühenden Mondwinden versteckt. Der Seat roch wie aufgetankt und startklar, doch der Motor gab beim Betätigen des Anlassers keinen Mucks von sich. Fürs erste konnte er laufen. Auf Dauer war ein Fahrzeug unentbehrlich. Beim Aussteigen entdeckte er, daß beide Vorderreifen platt auflagen wie tote Tiere. Ein Fall für den Abschleppdienst.

 Er schrieb ein paar Dinge auf, die er sofort brauchen würde, verschloß die Haustür und marschierte zurück zu Escandell. Ein Anruf bei Ribas war erfolglos. Unschlüssig bestellte er Kaffee. Kinder spielten Billard, vollführten einen Heidenlärm, prügelten sich mit den Queues und stießen wild auf dem grünen Tuch herum. Eine Kugel hüpfte über die Bande und knallte Bob in die Magengrube.

 „Könnt ihr nicht aufpassen?“ brüllte er und schwang die Kugel wutentbrannt wie einen Stein gegen die kleinen Spieler. Entsetzt wichen sie zurück.

 Nur der größte behauptete seinen Platz und sagte: „Haben Sie aber schlecht geschlafen, Mister.“

 Der Junge hatte feinfühlig den Punkt getroffen. Das steigerte Bobs Wut. „Ich hau’ dir gleich eine runter, du Lümmel.“

 Furchtlos trat der Junge ein paar Schritte vor, verächtlich den Mund verziehend. „Tun Sie’s. Los, versuchen Sie’s mal!“

 „Sir – kann ich Ihnen helfen?“ Escandell näherte sich mit ernstem Gesicht, dem Knaben den Arm um die Schultern legend.

 „Meine Güte, ja!“ Bob nahm sich zusammen. Er fühlte, wie sehr er Gast war, in mehrfacher Hinsicht. „Bitte rufen Sie mir ein Taxi.“

 „Wohin möchten Sie?“

 „Nach Figueras.“

 „Figueras, hm. Wissen Sie, wir müßten es von dort kommen lassen. Mit der Bahn sind Sie schneller. In zwanzig Minuten fährt ein Zug. Den erreichen Sie noch. Ich zeige Ihnen den Weg.“ Er war­tete keine Antwort ab, ging zur Tür und wies die Straße hinunter. „Rechts bis zur Bahnlinie. Von der Landstraße zweigt ein Weg zum Stationsgebäude ab. Sie können es nicht verfehlen.“

 Bob suchte vergebens nach Kleingeld. „Tut mir leid“, sagte er.

 „Nun gehen Sie schon“, mahnte Escandell kopfschüttelnd.

 Der Knabe legte salutierend die flache Hand an die Stirn. „Wie­dersehen, Mister.“

 Der Bahnhof war eine verfallene Bude mit eingeworfenen Fensterscheiben, zerfetzten Fahrplänen und Richtungspfeilen, Figue­ras und Portbou. Den ganzen Tag fuhr er buchstäblich im Kreis. Schaffner kam auf der kurzen Strecke keiner. Freie Fahrt und Gratisdrinks, ein großzügiger Auftakt. Und Umstände, die ihn fortwährend zur Untätigkeit verurteilten. In Figueras mittäglich geschlossene Läden.

 Er schlug die Zeit tot, indem er El País Seite für Seite las und die schwülstigen Kommentare zur Tagespolitik nicht verschmähte. Um halb fünf, seine Methodik begann wieder zu funktionieren, vereinbarte er in einer Reparaturwerkstatt einen Termin für den nächsten Morgen und mietete ein Auto. Einkauf von Le­bens­mit­teln gemäß Notizzettel. Beim Wein ertappte er sich bei Preismaß­stä­ben, von denen er seit langem nicht abgerückt war. Früher studenti­sch sparsam, verdächtigte er sich nun des Geizes. Entschlossen griff er eine Preis­kategorie höher und im Jahrgang weiter zurück.

 Den Wagen vollgeladen, fuhr er langsam heimwärts. Im Haus sah er sich nochmals um. Außer einer gründlichen Reinigung fehlte zur Wohnlichkeit nichts. Und Telefon, das würde er vermissen. ,Steht Ihnen jederzeit zur Verfügung, Sir’, hörte er Escandells eigentümlich unterwürfigen Ton. Oder nahm man ihn, aufmuckend gegen störende Überfremdung, auf die Schippe?

 Aus dem Schrank im oberen Schlafzimmer rollten ihm Pinienzapfen entgegen. Kniehoch lagen sie in dem Möbel. Den zweiten Kleiderschrank bewohnten zahllose leere Mineralwasserflaschen, verklebt mit den Chitinhüllen vermoderter Nachtfalter. Ernüchtert klappte er seinen Koffer wieder zu, zog sich um, band einen korrekten Krawattenknoten und fuhr nach Rosas.

 Keines der Restaurants, an denen er vorbeikam – Freßtempel im Stil Janes –, gefiel ihm. Jane ließ sich neppen. Sie mochte Lokale, wo Sänger mit einer Gitarre von Tisch zu Tisch schritten und die Gäste so eindringlich ins Auge faßten, als wäre man seit ewigen Zei­ten befreundet. Ansonsten hatte Jane vor ihrer Trennung einen ausgeprägt gediegenen Stil gehabt. Danach war sie schludernd abgetrieben, in Richtung fem­me fatale. Oder das französische Element in ihr hatte nur geschlummert. Ihre Familie stammte aus Folkstone, und Jane hatte die Schulferien stets im gegenüberliegenden Pas-de-Calais verbracht. Er zog die Karte mit Rosema­­ri­es Nummer aus der Geldbörse, neugierig, ihren Stil zu ergründen.

 Nach endlosem Klingeln hob sie ab.

 „Guten Abend. Bob spricht.“

 „Oh.“ Eine kleine Pause entstand. „Ich hätte nicht gedacht, daß Sie meine Nummer so bald brauchen würden.“

 „Nein, ich auch nicht.“ Er beglückwünschte sich zu seinem Entschluß. Ihre Stimme klang sympathisch wie am Morgen. „Ich irre in Rosas herum, würde gern zu Abend essen. Könnten Sie mir ein anständiges Restaurant empfehlen?“

 „Wo sind Sie jetzt?“ fragte sie sachlich.

 „An der Promenade. Ich glaube, ungefähr dort, wo Sie mich heute früh aufgelesen haben.“

 „Da hätten Sie das Mesón Catalán gleich schräg gegenüber.“

 Ihm kam vor, sie verdecke das Mikrophon, um jemandem etwas zuzuflüstern. Auf seine Menschenkenntnis baute er, hätte schwören mögen, sie lebe allein. „Möchten Sie nicht mit mir essen? Sie sind auch zu zweit willkommen.“

 Offenbar zögerte sie. „Ich habe schon gegessen. Es ist spät.“

 „Macht nichts. Trinken Sie ein Glas Wein.“

 „Gut. Ich komme gern. Danke. In zehn Minuten etwa.“

 „Bitte, lassen Sie sich Zeit.“ Er hängte ein. Seine Münzen steck­ten noch in der Einlaufrille. Gratis auch hier der erste Einsatz.

 Eine Weile war er an der Ecke vor dem Restaurant auf und ab gegangen, da sah er ihre schlanke, hohe Gestalt. Allein. Er atmete auf: Natürlich hatte er sich nicht getäuscht. „Sind wir hier richtig“, fragte er unbeholfen.

 Spöttisch verzog sie den stark geschminkten Mund. „Ist nicht viel teurer als anderswo.“

 Er fühlte sich bei seiner Sparsamkeit ertappt. Hastig öffnete er die Tür. Kaum Gäste. Kein Ober, der auf sie zueilte. Er steuerte einen Tisch in der Ecke an. So saß er gern, aus geschütztem Winkel beobachtend. „Ist Ihnen dieser Platz recht?“

 Der Platz war ihr recht. Sie redete den Kellner mit dem Vornamen an und bestellte das Übliche. Um sich vertraut zu geben, verlangte er ebenfalls das Übliche. Den Vornamen verkniff er sich.

 „Davon werden Sie kaum satt werden“, belehrte sie ihn. „Ein paar Mu­scheln und ein Glas Weißwein.“

 Er orderte das Tagesmenü. „Sie hätten von mir aus gern zu zweit kommen können.“

 Rosemarie schlug die Augen nieder. „Mein Mann ist tot.“

 Plötzlich überflutete Bob die Müdigkeit nach einer durchwachten Nacht und einem Tag wie im Karussell. Von Rosemarie zu Es­can­dell und wieder zurück, schemenhaft begleitet von einer Jane, die nicht mehr seine Jane war, die vielleicht in einem Londoner Restaurant soeben zu jemandem sagte: ,Ich bin eine geschiedene Frau.’ Auch er senkte den Kopf. „Es tut mir leid.“

 „Braucht Ihnen nicht leid zu tun“, sagte sie. „Ist Ewigkeiten her. Länger als zehn Jahre.“ Die Spitzen ihrer halblang geschnittenen Haare bogen sich wie der Blütensaum einer Glockenblume.

 „Leben Sie das ganze Jahr über in Rosas?“

 „Ja. Und Sie? Machen Sie Urlaub?“

 „Ich?“ Bob fuhr aus seinen Gedanken auf. „Nein, nein. Ich werde für längere Zeit bleiben. Meiner Cousine ist dieses Haus zu teuer. Da ich sowieso mal in einem südlichen Land arbeiten möchte, kann ich es ihr gewissermaßen abnehmen.“

 Rosemarie betrachtete ihn interessiert. „Was arbeiten Sie?“

 „Ach, am Schreibtisch“, sagte er ausweichend. „Kennen Sie sich übrigens in Prats näher aus?“

 „Was gäbe es da groß zu kennen? Ein ödes Dorf. Zur Zerstreuung werden Sie sich hierher bemühen müssen. Oder nach Figue­ras.“

 Die Suppe kam. Bob probierte. Zu kalt! Verdrossen ließ er den Löffel sinken und langte nach dem Weißbrot. „Meine Cousine hat mir die Anschrift eines gewissen Ribas hinterlegt. Kennen Sie ihn?“

 „Ribas? So heißt hier jeder zehnte.“

 „Ich konnte ihn telefonisch nicht erreichen. Genausowenig wie meine Cousine. Eigenartig.“

 Rosemarie hatte sich zurückgelehnt. Sie strich die Haare aus der Stirn. „Lebt sie in Barcelona? Kommt jetzt in Mode, in Barcelona leben und hier an der Küste ein Wochenendhaus halten.“

 „Emilia arbeitet in Madrid.“ Tiefblaue Augen, stellte er fest. Der Kellner brachte die Muscheln und für ihn ein kleines Schnitzel vom Schwein, Spiegeleier und Pommes frites. „Ihre Freundin“, begann er wieder. „Sie kennt Prats vielleicht besser?!“

 „Du liebe Zeit, für was wollen Sie sie denn einspannen?“

 „Vielleicht könnte sie mir eine Putzfrau besorgen. Das Haus ist von oben bis unten verdreckt. Ich brauchte ständig jemanden. Kochen kann ich, bin aber kein Hausmann.“

 Wann je hätte er mit einer neuen Bekannten solchen Stumpfsinn besprochen? Diese Frau war trocken wie Wüstengras. Unter seinen Achseln spürte er Schweißtropfen. Das Gespräch schleppte sich dahin. Das Essen sättigte, schmeckte ihm aber nicht. Er war froh, als er sich erheben konnte.

 Auch sie wirkte angestrengt. „Soll ich Sie nach Hause fahren?“ fragte sie ein wenig spitz.

 „Danke. Ich habe einen Mietwagen.“

 „Ich mache Ihnen gern einen Kaffee. Wenn Sie mögen.“

 Sie waren wieder an der Promenade angelangt. Er versuchte ihr Gesicht zu erkennen. Die grelle Straßenbeleuchtung hinter ihr blendete. „Na, wenn Sie möchten“, sagte er wenig galant. In seiner Jugend – was für ein Abenteuer, ein Mädchen mit nach Hause zu lotsen! Doch umgekehrt? Er schüttelte sich unter süßsauren Schauern.

 Sie wohnte in einem unscheinbaren Wohnblock im Ortszentrum. Nichts Modernes. Sie war wohl hier mit ihrem Mann eingezogen, zu verschwindend kleiner Miete, und hütete sich jetzt, irgendwohin zu wechseln, wo es luxuriöser, aber viel teurer wäre.

 „Die Beleuchtung im Treppenhaus ist ausgefallen“, warnte sie. „Können Sie genug sehen? Oder soll ich die Taschenlampe holen?“

 „Ich komme zurecht.“ Mit der Fußspitze suchte er die Stufen. Das Geländer wackelte.

  Sie fummelte lange am Schloß der Wohnungstür, dann am Lichtschalter. Eine grasgrüne Ampel erhellte den schlauch­artigen Vor­raum, nicht dämmrig genug, um das Durcheinander aufgestapelter Kartons und Wäschehaufen zu vertuschen. „Sie müssen entschuldigen. Ich bin beim Frühjahrsputz.“

 Die Tür zu einem Zimmer öffnete sich knarrend. Auch dort flammte schummriges Licht zum Erbarmen auf. „Nehmen Sie Platz“, bat sie. „Wie möchten Sie den Kaffee? Schwarz?“

 „Ja, gern.“ Es war ihm gleich. Seine Beine, schwerer als Blei, sackten weg, und er rutschte mechanisch auf eine Couch, die unter seinem Gewicht unwillig knackte. Er schloß die Augen und gähnte. Diesen Zustand kannte er gut. Falls er sich nicht zusammenriß, würde er auf der Stelle fest einschlafen, mit oder ohne Kaffee.

 „Ach, du liebe Zeit“, sagte Rosemarie munter. „Strecken Sie sich einfach eine Viertelstunde lang aus.“

 Er wußte nicht, was ihn mehr verwirrte, die zweideutige Situation oder die Schlichtheit dieser Frau. Wie alt war sie? Mitte dreißig etwa. Er zwang sich, die Augen offenzuhalten, den toten Punkt zu überwinden, übte sich an einem Bild über dem Fernseher. Eine Frau im Negligé, auf einer Chaiselongue ruhend, neben ihr langstielige rote Rosen. Er hielt es für eine Illustration Beardsleys zu Salome. Au­tomatisch zählte er die Quadrate des Gitterfensters über der Schö­nen, sieben mal fünf, machte fünfunddreißig, wobei die Rosen in manche Quadrate hineinragten, in Nummer dreizehn, vierzehn – er kniff die Augen zusammen –, neunzehn, zwanzig und weiter in die unteren Reihen. Ein Dornröschen? Er lächelte. Vielleicht hätte er die gute Jane in manchem als Dornröschen auffassen müssen, verborgen hinter den Gittern der Konventionen. Ihr Ausbruch in Richtung fem­me fatale war für ihn zu spät gekommen. Irgend etwas an der Frau, mit der er gerade gespeist hatte, erinnerte stark an Jane. Was nur? Es war nichts Äußerliches. Mit Jane gemeinsam hatte sie diese deutliche Ergebenheit, sich dem Männlichen zu unterwerfen. Beschwichtigend hob er die Hand: Biologisch betrachtet. Vom Intellekt her hat­te Jane bei ihrer Scheidung eher ihn aufs Kreuz gelegt als umgekehrt. Ob die nor­dische Hagere, die in der Küche rumorte, viel Grips besaß, war indessen fraglich.

 Sie rollte einen Servierwagen herein. Nie hätte er in so schlichter Umgebung einen englischen Teewagen mit silbrigen Aufbauten und roten Tabletts erwartet. Und Rosemarie drückte in ihren Bewegungen etwas so rührend Sorgliches aus – er fühlte, wie ihm warm ums Herz wurde.

 „Sie müssen entschuldigen“, setzte sie wieder an.

 „Wegen was denn?“ fragte er in gröberem Tonfall als beabsichtigt.

 Sie warf ihm einen unsicheren Blick zu. „Ich bat Sie herauf und hatte mir nicht überlegt, wie wenig ich derzeit auf Besuch eingerichtet bin.“

 „Ach, Sie haben es doch recht hübsch hier.“ Er setzte sich auf und bediente sich, ohne zu fragen, aus dem Milchkännchen. „Ich muß mich entschuldigen: Ich hätte Ihrem mit meinem Vorschlag, in eine Bar zu gehen, zuvorkommen sollen.“

 Auf diese Art Süßholz sah Rosemarie ihn an, als hielte sie ihn für trunken. Er und trunken! Die Flasche Wein zuvor war allenfalls geeignet gewesen, ihn erschlaffen zu lassen, und er war keineswegs sicher, ob er es besonders mochte, jetzt erschlafft auf dieser plüsch­überzogenen Couch zu sitzen.

 Im Flur klappte eine Tür. Bob sah nackte Beine hereinstapfen. Sie gehörten zu einem Jungen. Er hatte nichts an. Abgesehen von ei­nem um den Hals gehängten Kassettenrecorder und Kopfhörern, die dumpfes Wummern verbreiteten. Derselbe Kna­be, der ihm in Escandells Bar die Stirn geboten hatte, hockte sich nun vor die Kommode neben dem Fernseher, zog Papiertaschentücher heraus und schneuzte sich ausgiebig.

 „Aber Archie!“ Fassungslos ließ Rosemarie ihre Tasse sinken. Kaffee schwappte auf das Kleid.

 Der Junge federte vom Boden hoch. Die Nacktheit unterstrich nachdrücklich seine selbstbewußte Haltung. Sein wacher Blick richtete sich auf den Besucher. „¡Vaya tío!“, murmelte er und nahm die Kopfhörer ab. „Also wirk­lich, Rosie! Du übertriffst dich mal wieder. Der Typ hat mir heute mittag Prügel angedroht.“ Er zerknüllte das Taschentuch, schmiß es Bob vor die Füße. „Wär’ mir recht, Mister, wenn Sie möglichst bald Leine ziehen.“ Damit verließ er den Raum.

 Schlagartig war Bob munter. Geschlechtsreif!, protestierte der Biologe in ihm. Vor der eigenen Mutter gehörte sich ein solcher Auftritt nicht. Geschweige denn vor einem Fremden. Abrupt stand er auf. „Nehmen Sie mir’s nicht übel. Die letzte Nacht hatte ich kaum Schlaf. Wird Zeit, daß ich ins Bett komme.“

 Rosemarie hob das Taschentuch auf. Sie sah unglücklich aus. „Soll ich Sie nicht doch fahren?“

 „Danke, ich schaff’s schon.“ Er bemühte sich, ein freundliches Gesicht zu ziehen und freundlich zu sagen: „Sie sind wirklich sehr liebenswürdig.“ Trotzdem klang es wie: Lassen Sie mich bloß in Frieden.

 Sie öffnete die Tür und sagte hilflos: „Sie wissen ja. Falls Sie Probleme bekommen...“

 „Ja ja. Nochmals vielen Dank. Gute Nacht.“ Er glaubte sich allein, hatte jedoch nicht mit ihrer Fürsorge gerechnet. Eine Taschenlampe in der Hand, stieg sie hinter ihm her.

 Erst im Wagen wurde ihm bewußt, daß er vielleicht gern auf jener Plüschcouch übernachtet hätte. Oder lieber gleich in ihrem Bett. Aber eine Frau mit Kind? Das fehlte noch! Solche Frauen benahmen sich unvermeidlich wie Katzen mit ihren Jungen. Muttertiere, die ein Nest suchten.

 Zu Hause anlangend, blickte er auf die Uhr. Halb zwölf. Die Zeit, zu der er am Abend zuvor in Lyon in den Zug gestiegen war. ,Le Rapide Hispania-Express à destination de Portbou va partir. Attention au départ! La SNCF vous souhaite un agréable voyage.’

 

 II

 

 Bob erwachte von Motorengeräusch und lautem Klopfen an der Tür. Der Abschleppwagen. Er warf sich den Bademantel um und öff­nete dem Mann im Overall die Garage. Bis der Mechaniker wieder in den Kleinlaster kletterte, war der in der Dose klumpig gewordene Pulverkaffee aufgebrüht. Es schmeckte grauenhaft.

 Dusche und peniblee Rasur. Er zog sich frisch an, helles, offenes Hemd, einen leichten Anzug und Slipper aus geflochtenem Leder. Hier würde man doch keine Krawatte brauchen? Ungewiß betrach­tete er sein Spiegelbild. Und die Aktentasche? Es sähe dämlich aus, damit ins Dorf zu pilgern. Unschlüssig sah er sich nach einem Versteck um und entschied sich für den Eimer in der Toilette, über den er einen Scheuerlappen breitete.

 Mit knurrendem Magen lief er hinunter. Auf halbem Weg blieb er überrascht stehen. Die Ruine, die er in der dunstigen Witterung des gestrigen Tages nur in Umrissen wahrgenommen hatte, leuchtete in der Morgensonne sandfarben auf dem steilen Bergkegel wie der höchste Punkt einer marokkanischen Kasbah.

 Escandell wischte draußen soeben Tische und Stühle ab. Bob wünschte einen guten Morgen. „Ich würde gern frühstücken.“

 Der Wirt nickte. „Kaffee und Toast?“

 „Ja. Und bitte zwei Spiegeleier, halbflüssig. Mit Speck. Hinterher drei Donuts und ein Joghurt. Irgendwas mit Früchten.“

 Escandell starrte den Vielfraß fasziniert an.

 „Donuts. Sie dürfen auch vier bringen. Diese zuckrigen Schmalz­kringel. Verstehen Sie? Oder heißen sie hier anders?“

 „Nein, nein.“ Escandell grinste schwach.

 „Dürfte ich inzwischen telefonieren?“

 „Bitte. Der Lichtschalter ist in der Kabine. Links.“

 Bob wählte und nannte seinen Namen. Obgleich er ahnte, ihn am Apparat zu haben, verlangte er Herrn Ribas.

 „Mein lieber Morgan“, hörte er eine Stimme voller Optimismus, „wo haben Sie gesteckt? Emilia flog Dienstag zurück nach Madrid, ohne Sie würdig empfangen zu haben. Das tat ihr sehr leid.“

 „Sicherlich hatte sie mein Telegramm mißverstanden.“

 „Aha. Wo sind Sie jetzt, wenn ich fragen darf?“

 „In der Bar Escandell. So wie ich gestern hier war. Hier hatte man mit mir gerechnet.“

 Ribas kicherte. „Würde es Sie stören, wenn ich auf einen Sprung hinüberkäme?“

 „Sie sind gern zum Frühstück eingeladen.“

 „Danke.“ Ribas kicherte wieder. „Hab’ schon gefrühstückt. Bis gleich.“

 So wie Ribas sich gab, hätte Bob einen Mann mittleren Alters er­wartet, den Texanerhut tief ins Gesicht gezogen. Ein Endsechziger kam. Mit dem blassen Teint eines Gelehrten und dezenter Krawatte in taubenblau. Er schüttelte dem Engländer energisch die Hand und klopfte ihm auf die Schulter wie unter Freunden, die sich längere Zeit nicht gese­hen haben.

 „Emilia hat viel von Ihnen erzählt. Der Lieblingscousin, wie?“ Ribas neigte vertraulich den Kopf vor.

 „Schmeicheleien. Im Grunde kennt sie mich nur aus der Kindheit, aus gemeinsamen Ferien in ihrem Elternhaus. Später sahen wir uns selten und immer kurz. Entschuldigen Sie meine Neugier: Sind Sie ein naher Freund der Familie?“ Der Mann war unnatürlich überschwenglich. Bob examinierte ihn wie ein Insekt, bemerkte es und versuchte seinen Gesichtsausdruck zu glätten.

 Ribas’ Augen hüpften listig. „Meine Frau ist weitläufig mit Emilia verwandt. Und ich habe die Ehre, ihr Pate zu sein.“

 „Verzeihen Sie. Das wußte ich nicht.“ Wie wenig er seine Cousi­ne kannte! Zerstreut spießte er Ei und gebratenen Speck auf, während er verstohlen die Hennafarbene betrachtete, Rosemaries Freun­din, die drei Tische weiter Karten legte. Im Gegensatz zu Rosemarie war sie – er kniff die Augen zusammen – absolut ungeschminkt. So ge­fielen ihm Frauen. „Sagen Sie, dürf­te ich Sie um etwas bitten?“

 „Raus mit der Sprache!“

 Bob zögerte. Lieber hätte er die Kartenlegerin gefragt. Eine Chance vertan. „Ich weiß nicht, wie Emilia das hielt. Ich bin nicht sehr praktisch veranlagt. Könnten Sie mir eine verläßliche Putzfrau empfehlen?“

 „Meine Güte, Sie haben Wünsche!“ Ribas, lautstark in die Hände klatschend, sah sich ungeduldig nach dem Wirt um.

 Bob war irritiert. Welche Wünsche erwartete Ribas von einem Unbekannten? Daß er ihn bei Eiern und Toast um Geld anschnorrte? Der Mann war schwierig einzuordnen. Und dieses Land verleitete zu grandiosen Fehleinschätzungen. Manchmal hatte er mit jemandem gezecht und geurteilt: vornehmes Auftreten, Oberschicht, vielleicht Aristokrat – und die Visitenkarte offenbarte einen Bankkassierer. Ein andermal einen Schwadroneur neben sich, der im Stil der Hyde Park Soap-Box-Speaker über die Regierung wetterte, hatte er an ein vitales Exemplar aus der Arbeiterschaft gedacht, es hingegen mit einem Dozenten der Madrider Complutense zu tun gehabt. Ribas mochte pensionierter Postdirektor sein. Schwieriger zu bestimmen war die Hen­nafarbene, die eben wieder ihre Karten mischte und so tat, als sei ihr Landsmann nicht vorhanden.

 Escandell räumte die Teller ab, brachte Bob das Gebäck und Ribas ungefragt ein Gläschen Muskateller. Irgendwie fand der Engländer die hellbraunen Fettkringel vor sich peinlich. Escandell fragte: „Wünschen Sie Messer und Gabel, Sir?“

 „Wenn Sie nochmals Sir zu mir sagen“, grollte Bob.

 Ribas lehnte sich zurück und tuschelte mit dem Wirt auf Katalanisch. Escandell horchte auf und reichte Bob spontan die Hand. „Entschuldigen Sie! Ich wußte nicht, wie Sie’s mit Vornamen halten. Bei uns sind sie üblich. Ich bin Juan. Oder Juanito.“

 Bob erhob sich mechanisch, einen angebissenen Donut in der Linken. „Finde ich okay. Meine Freunde rufen mich Bob. Bobby höre ich weniger gern.“

 Der Wirt verneigte sich leicht. „Angenehm.“ Ehe er in der Bar verschwand, drehte er sich tänzelnd und verneigte sich nochmals.

 „Sehen Sie“, bemerkte Ribas, „Ihr Land wie das unsere, wir hatten keine Revolution à la française, wo mit den Köpfen die Titel rollten. Unsere Nachbarn reden sich unterschiedslos mit Monsieur an. Trotzdem stecken die Leute hilflos in ihrem Klassensystem.“

 „Darum geht es nicht“, versetzte Bob. „Der Mann wollte mich als Ausländer veralbern.“

 „Lieber Morgan! Sie mit Ihrer Cousine, der Gräfin – da folgert er richtig, Ihnen gebühre eine formelle Anrede.“

 „Emilia? Gräfin? Wollen auch Sie mich auf den Arm nehmen?“

 „Sie ist Gräfin.“ Ribas zwinkerte verschmitzt. „Der Titel war in der Generation ihrer Urgroßeltern verlorengegangen, was sie bei, äh, Stammbaumforschungen herausfand. Nun gibt es eine Schiedsstelle in der Verwaltung, die sich solcher Fälle annimmt. Sie bekam recht, und der Titel wurde per königlichem Dekret erneuert.“

     „Bravo“, spottete Bob. „Wurde ihr obendrein eine ausreichende Summe dekretiert, damit sie standesgemäß leben kann?“

 „Unsinn. Bei uns ist der Adel verarmt. Bei Ihnen etwa nicht?“

 „Ziemlich. Wenn man es an den Herrensitzen und Schlössern mißt. Schlecht gepflegt. Bis auf die der königlichen Familie. Die hat es dick. Scheint das Volk gar nicht zu stören. Begreifen Sie das?“ Trübsinnig betrachtete er die letzten beiden Donuts. In der Studienzeit hatte er sechs auf einen Sitz verdrücken können.

 „O ja! Königshäuser bedeuten Geschichte, Tradition, Kultur. In un­serer Zeit verfallender Werte könnte der Adel aufs Neue seine Rolle als Bewahrer solcher Normen spielen. Leider hört man von diesen Herrschaften nur, wieviel sie in den Kasinos verspielen. Möchten Sie nicht aufessen?“ bat er.

 Bob überhörte die Frotzelei. „Ich fürchte, Sie müssen mich entschuldigen. Auf mich wartet heute ein umfangreiches Programm.“

 „Ja, gewiß. Machen Sie sich mit allem vertraut. Falls ich Ihnen behilflich sein kann, rufen Sie an oder kommen Sie einfach vorbei. Dort vorn die Straße hinter der Mineralwasserfabrik rechts rauf, dann ungefähr dreihundert Meter nach der scharfen Biegung das letzte Haus.“

 „Gern.“ Bob lächelte dankbar. Er beglich die Rechnung, bezahlte Ribas’ Muskatellerwein mit. Im Gehen grüßte er die Hennafarbene. Gegengruß erhielt er keinen.

 Ribas, ihm unmittelbar auf den Fersen, raunte: „Haben Sie sich etwa von Lucy bereits weissagen lassen?“

 „Sie halten nichts davon?“

 „Na, Sie doch hoffentlich nicht. Alles Quatsch.“

 „Ich weiß nicht. Wir werden in Familien hineingeboren, die wir uns nicht aussuchen können. Wie auch in Konstellationen des Universums. Wir sollten danach trachten, soviel wie möglich darüber zu wissen. Meiner Ansicht nach kann man nicht alles, was damit zusammenhängt, als Quatsch abtun.“

 Ribas grinste listig. „Sie haben recht. Ich muß gestehen, ich habe mich noch nie damit befaßt.“

 Listig oder nicht, es schien Bob für die Intelligenz des Alten zu sprechen, binnen Sekunden den eigenen Standpunkt in Zweifel zu ziehen. Er drehte sich erschreckt um, weil er hinter sich einen Hund hecheln hörte. Da war kein Hund. Nur Lucy, ihm streng nachstarrend.

 

Während des Frühstücks hatte er einen Entschluß gefaßt, dessen Umsetzung eine sorgfältige Inspektion des Grundstücks erforderte. Emilia hatte ihm einmal die Größe mitgeteilt, etwa anderthalb Hektar. Zauberhaft fand er den Platz in zweifacher Hinsicht: Hier ging die Ebene in die Hügel über, und die ehemals bearbeiteten Felder grenz­ten an die Macchia der sanftgeschwungenen Pyrenäenhänge. Wie in Großfamilien mischten sich Mandel- und Feigenbäume mit Korkeichen und Pinien. Dazwischen standen Wacholder, Rosmarin und Ginster, dessen pralle Knospen die bevorstehende Blüte ankündigten. Und in der Senke, wo vermutlich bei Regenfällen ein Wild­bach durchschoß, wuchsen Salbei und Minze. Ergriffen saß er im Gras, an einen Feigenbaum gelehnt.

 Nach dem Essen setzte er sich ins Auto. Von einer Telefonzelle in Figueras erreichte er endlich Emilia. Wie immer, wenn er mit ihr sprach, fühlte er die Vertrautheit zwischen ihnen. „Du hast einen Katalanen zum Patenonkel. Hättest du mir sagen sollen! Liege ich richtig? Er war Postbeamter.“

 Sie lachte. „Toni war Bürgermeister von Cadaqués. Endlose Jahre. Bis man ihn gegen seinen Willen in Pension schickte.“

 „Alle Himmel!“ staunte Bob. „So kann man sich täuschen. Tut mir schrecklich leid, Mädchen, daß du umsonst hergefahren bist. Montag hetzte ich noch durch den Louvre.“

 „Ja“, seufzte sie. „Ich hatte mich im Datum vertan. Umsonst war ich trotzdem nicht in Prats. Bobby, ich muß dir etwas gestehen. Das Haus ist mit einer Hypothek belastet. Und wahrscheinlich werde ich es in Kürze verkaufen müssen.“

 „Warum denn?“ Bob hörte von fern Siegesglocken läuten.

 „Die Mieten hier steigen geradezu aberwitzig. Ich war gezwungen, eine Wohnung zu kaufen. Also, mitten in der City.“

 „Gratuliere.“

 „Danke. Du wirst sie ja sicher bald sehen.“ Wieder seufzte sie. „Wie auch immer, schon die Anzahlung ging über meine Mittel. Deshalb die Hypothek auf das Haus.“

 „Emy“, platzte er heraus. „Ich kaufe es. Sofort. Gegen bar.“

 Nach Sekunden verblüfften Schweigens: „Du bist verrückt! Kauf dir was Moderneres. Am Meer. In dem Dorf dort verkümmert man.“

 „Wenn es für einen Bürgermeister von Cadaqués gut genug ist... So schlimm kann’s nicht sein.“

 „Doch, es ist schlimm“, widersprach sie. „Du würdest dauernd im Auto sitzen. Im Winter doppelt und dreifach.“

 „Das macht mir nichts aus. Sag einfach ja. In ein paar Tagen hast du das Geld.“

 „Bobby, das kommt so überraschend. Was soll ich sagen!?“

 „Nur, wieviel du haben willst.“ Er hörte sie mit jemandem reden.

 „Entschuldige. Es gibt Probleme mit meinem Artikel. Der Setzer drängt.“

 Er verfluchte den Berufsstand der Setzer. „Ich rufe in einer halben Stunde nochmals an.“

 Wie weit reichte die Geschäftstüchtigkeit seiner Cousine? In kurzer Zeit konnte sie Argumente für einen gesalzenen Preis zurechtlegen – bei Gelddingen hörte Verwandtschaft auf. Mißmutig stolperte er aus der Zelle. Jane hatte immer Einfühlungsvermögen in seine Geschäfte besessen, damals, als die Schulbücher Gewinn abzuwerfen begannen. Oder später das populärwissenschaftliche Kompendium über Zuchtkatzen. Hatte sie da nicht das doppelte Honorar erzielt? Jane hätte er jetzt gebraucht, ihren merkantilen Spürsinn. Aber auf etliche tausend Pfund kam es ihm ja nicht an, zumal er überzeugt war, er würde nichts Ähnliches finden. Gerade Emilias Haus paßte ihm, ein schönes altes Haus ohne überflüssigen Luxus. Luxus lullte ein, drängte das Wesentliche zurück. Wesentlich war seine Arbeit.

 Er probierte es erneut. Eine andere Stimme: Emilia sei außer Haus, zu Recherchen. Könne man eine Nachricht aufnehmen? Verär­gert häng­te er ein. Sie ließ sich verleugnen und ihn schmoren. Während er ziellos über die Ramblas marschierte, beruhigte er sich. Erst zwei Tage war er hier. Wozu diese Eile?

 Die Beurteilung der Reparaturwerkstatt: Ein schrottreifes Auto. Kurz entschlossen kaufte er einen gebrauchten Ford der Mittelklasse mit Garantie auf ein Jahr. Kulant war der Preis und auch, daß Abschleppkosten und Verschrottung des alten Wagens sowie die amtlichen Zulassungsgebühren des neuen inbegriffen waren.

 Kurz vor acht betrat er ein Schlossergeschäft, suchte einen Wand­tresor aus und vereinbarte die Montage für den nächsten Tag. Danach rief er nochmals in Madrid an. Emilia hatte soeben mit ausländischen Gästen das Redaktionsgebäude verlassen.

 Apathisch versuchte er eine andere Nummer. Warum es endlos klingelte, bevor Rosemarie abhob, glaubte er ergründet zu haben. Sie war leicht schwerhörig, und ihr lauter Fernseher übertönte alles. Eine Jungenstimme meldete sich, die Schwerhörigkeit schien familienbedingt. Was ihn ärgerte: Nachdem er seinen Namen genannt hatte, polterte der Hörer ins Leere. Es dauerte Ewigkeiten, bis Rosemarie an den Apparat kam.

 „Bob?! Entschuldigen Sie. Ich war grad’ im Bad.“

 „Bitte verwünschen Sie mich nicht, weil ich wieder so spät störe. Falls Sie Lust hätten, würde ich gern einen Drink mit Ihnen nehmen. Schrecklich gern sogar.“

 Satz eins war auf seinem Mist gewachsen. Zwei und drei stamm­ten aus dem Krimi, den er las. Agatha war zuzutrauen, ihr Mörder würde sich mit derselben Formel gern verhaften lassen. Schrecklich gern. Damit er nicht weiter Leute zerstückeln mußte.

 „Oh“, hauchte sie, er sah sie förmlich erröten. „Ich hatte einen furchtbaren Tag. Ein Drink wäre mir grade recht.“

 „Vielleicht wüßten Sie eine hübsche Bar. Eine, wo die Musik nicht allzu laut ist.“

 Eine halbe Stunde später saßen sie beisammen. Bob sagte: „Krei­den Sie es mir bitte nicht an, daß ich mich gestern so gehen ließ. Ich war todmüde. Ich hätte zu Hause essen sollen und mich nur mir selbst zumuten.“

 „Haben Sie sich denn ein bißchen einrichten können?“

 „Doch, ja. Das Haus sieht vielleicht nicht so aus: Drinnen ist alles komplett und brauchbar. Würden Sie übrigens diesen Kasten kaufen mögen?“

 „Du liebe Zeit! Dafür hätte ich nie das Geld.“

 „Und wenn Sie es hätten?“

 Sie stöhnte leise. „Wer hätte nicht gern ein Haus im Grünen.“

 „Sie drücken sich um eine klare Antwort“, tadelte er.

 Er drängte sie, ihre Vorstellung eines Landhauses darzulegen. Sie zierte sich. Er glaubte an schlechte Vorzeichen, von einer Frauenseele aufgespürte Erdstrahlen, die das Biotop latent bedrohten wie Lawinen an gefährdeten Hängen stehende Almhütten. Ihre Meinung interessierte ihn deshalb besonders, weil sie das Anwesen wie er zum ersten Mal gesehen hatte. Er bohrte, ihre Lebensumstände zu erfahren, gab als Köder einen Teil der seinen preis: freischaffender Biologe. Worunter sie sich der verständnislosen Miene nach nichts vorstellen konnte. Er eigentlich auch nichts, überlegte er. Vielleicht dachte er dabei an freischaffende Künstler, mit denen seine Erfahrungen, fachlich gesehen, nicht weit gediehen waren. Sie hatten seine Neugier, den künst­le­ri­schen Impetus zu ergründen, stets damit erstickt, ihn einen phantasielosen Rationalisten zu nennen. Zugegeben, er war Dar­wi­nist und würde sich sträuben, beispielsweise Schimpansen Gefühle zuzuordnen, die außerhalb der elementaren Triebe, Über­leben, Nahrungsaufnahme und Fortpflanzung lagen. Bei Homo sapiens mußte man an Physis und Intellekt vorbei Sinnlichkeiten transzendierender Art konstatieren, Hoffnung, Liebe, Weltschmerz und viele andere mehr, die er in seiner Di­plomarbeit als Intellektuelle Aberrationen bezeichnet hatte. Auf den Waschzetteln der Bücher hatte Cowfield, sein Verleger, ihn prompt als deren Urheber vor­gestellt.

 „Fragen Sie Lucy, ob Sie es kaufen sollten.“ Über dieser Eingebung glühten ihre Augen triumphierend auf.

 „Wer ist Lucy?“ Er witterte eine gestrenge Künstlerin hinter ihrem Vorschlag.

 „Meine Freundin aus Prats. Die Frau, die mit uns fuhr. Sie versteht viel von Tarot.“

 „Ah.“ Die hennafarbene Kartenlegerin, befaßt mit schwach­sin­ni­gen Künsten. Er ließ das Thema fallen. Im Spiegel hinter der Theke sah er sich neben Rosemarie. Gestern hätte er noch nicht definieren können, was ihn zu ihr hinzog – ihre Warmherzigkeit in Verbindung mit starker Lebensgier. Beides war ihm abhanden gekommen. Wahrscheinlich seit er angefangen hatte, Geld zu sammeln, was für ihn hieß, primäre Gier durch sekundäre zu ersetzen.

 „Es stimmt“, sagte Rosemarie, die die ganze Zeit auf ihn eingeredet hatte, „und wenn Sie es zehnmal nicht glauben. Ich lebe seit zehn Jahren allein. Seit zehn Jahren und vier Monaten.“

 So lange lebten Jane und er noch nicht getrennt, nicht gedrittelt solange, erzählte er beim zweiten Glas Wein, und diffus schien ihm, daß er die Story ihrer Trennung Frauen wie Rosemarie nicht zum er­stenmal auftischte. „Jetzt müssen Sie mir verraten, was Sie beruflich machen.“ Er tippte auf Sekretärin.

 „Ach, ich zieh’ ja das Kind groß.“

 Eine verblüffende Antwort. Noch nie hatte er sich klargemacht, die Aufzucht eines Kindes könne einem Ganztagsjob entsprechen.

 Sie deutete seine Verblüffung als Nichtverstehen. „Archie ist mein Stiefsohn“, erklärte sie. „Seine Mutter starb bei der Geburt. Und mit dreieinhalb Jahren verlor er den Vater.“

 „Das ist hart.“ Er sah den Nackten vor der Kommode hocken und dachte an junge Rhesusaffen, die man den Eltern fortnimmt und anderen Pärchen zuteilt. „Akzeptiert er Sie?“

 „Warum sollte er mich nicht akzeptieren?“ fragte sie verdutzt.

 Der Knabe hatte mit dem Schneuztuch nach ihm geworfen. Affen würden in einer für sie ähnlichen Situation mit Bananenschalen werfen. Aus Eifersucht. Um Interesse zu erwecken. Um zu spielen. Oder aus Aggression. Ein Fehdehandschuh. Pitsch, da lag er.

 Sie gefiel ihm, weil sie groß war, fast so groß wie er, und weil sie schlicht war im Auftreten wie im Wesen. Alles an ihr war schlicht wie die Wohnung, in der sie lebte. Außer ihrer Kleidung, da hätte er zurückhaltendere Farbtöne mehr geschätzt. Und an ihre schwarzumrandeten Augen konnte er sich nicht gewöhnen. Gefiel sie ihm nicht auch deswegen, weil der Zufall sie zusammengeführt hatte, eine Bekanntschaft, maßgeschneidert für seine Situation? Er war ein fauler Strick, was Frauen betraf, ließ sich von ihnen gern einfangen und verwöhnen. Dafür waren Frauen geschaffen, das Verwöhnen lag ihnen im Blut. Jane hatte ihn verwöhnt. Das hatte sie gewiß getan.

 „He!“ Ihn leicht am Arm berührend, wiederholte sie: „Warum sollte ein Kind eine Frau nicht akzeptieren, als Mutter meine ich, wenn es die leibliche Mutter gar nicht kennengelernt hat?“

 „Ja“, erwiderte er matt. „Warum nicht?“

 Er verabscheute Problemstellungen dieser Art. Die Reibungslosigkeit von Eltern-Kind-Beziehun­gen sah er generell chancenlos, und der Harmonie zwischen alleinstehenden Frauen und ihren Kindern mißtraute er schon deshalb, weil neue Partner sich schwerlich dazu gesellten. Männer bevorzugten leibliche Vaterschaft, oh, sie waren stolz darauf. Obwohl sie, wie bei den Feliden, für ihre Nachkommen kein Interesse zeigten. Wieder ruhte sein Blick auf Rosemarie. Sie strahlte etwas aus, das zu Rührung hinriß, saß da, sanftmütig ergeben, und schien aller Illusionen bar, daß etwa eine Bekanntschaft wie diese an ihrem Alleinsein ernsthaft rütteln könne. Wogen von Sympathie durchschauerten ihn. Zwei Tage in einem neuen Umfeld, und so eine Freundschaft zur Seite. Jane würde staunen. Wie oft hatte sie ihn als vertrockneten Forscher hinzustellen versucht. Nein, Jane kannte den richtigen Bob gar nicht! Obwohl sie den richtigen Bob erst geformt hatte, wie ein Holzschnitzer kantige Klötze modelliert. Er drehte sich auf seinem Barhocker, um die Erinnerung an seine einstige Lebensgefährtin abzuschütteln.

 „Trin­ken Sie noch ein Glas?“

 Besorgt blickte sie ihn an. „Gern. Und Sie? Sie müssen noch fahren! Die Polizei ist hier sehr strikt.“

 „Aber Rosemarie!“ Wie hübsch sich dieser Name aussprach. „Auf der kurzen Strecke...“ Er merkte ihr an, wie sie sich wohl fühl­te. Sie hatte aufgehört, sich von Zeit zu Zeit das Gesicht zu betupfen und verstohlene Blicke in den Handtaschenspiegel zu werfen.

 Dennoch wurde ihr Beisammensein beendet. Die Bar schloß. Auf der Straße, einen schneidenden Wind vom Löwengolf her im Gesicht, erinnerte er sich ihrer kargen Wohnung, über die sie nicht allein verfügte, und seines klammen Bettes in Prats, in das er, wenn er sie hätte, eine Wärmflasche legen würde. Er bedankte sich und bat, wieder anrufen zu dürfen.

 „Wann immer Sie wollen“, sagte sie schmelzend. Zu einem Adieu-Küßchen, selbst einem flüchtigen, reichte es noch nicht: Bevor er einen schnellen Schritt auf sie zu wagen konnte, trat sie aus seiner Reichweite, die Saphiraugen ergeben auf ihn gerichtet und sich mit beiden Händen an ihrer Umhängetasche festklammernd.

 

Ein dezenteres Motorengeräusch, doch heftigeres Pochen als am Vortag weckten ihn. Wie gern pflegte er sich morgens nochmals umzudrehen! Im Internat hatte er einen Schulkameraden mit heillos schlechtem Schlaf, der nachts zehnmal aufwachte, manchmal beauftragt, ihn wachzurütteln und zu melden, es sei soundso spät, er habe noch zwei oder drei volle Stunden in den Federn vor sich. Er zog das Gür­telband des Bademantels zur Schlaufe. Waren ja keine Federn ge­we­sen. Decken wie hier, nur dünner. Walisische Decken. In den Waschräumen walisisches Wasser. Kaltes Wasser.

 Die Leute mit dem Tresor. Bob hatte nicht bedacht, daß für einen Wandtresor eine Wand erforderlich war. Er wählte ad hoc eine Nische im Schlafzimmer. Während er sich duschte und rasierte, hörte er das dumpfhämmernde Geräusch des Meißels, der die Steine aufbrach. Beim Ankleiden spürte er wieder den Schmerz in der Hüf­te. Oder war es die Wirbelsäule? Er würde einen Spezialisten aufsuchen müssen.

 „Wollen Sie bitte mal schauen?“ rief einer der Monteure hinter der halboffenen Badtür.

 Sie hatten den Stahlblock einzementiert und schärften ihm ein, vor Ab­lauf von zwölf Stunden könne man das Ding nicht benutzen, ohne die Endfestigkeit im Mauerwerk zu gefährden. Er quittierte die Arbeit, gab den beiden Trinkgeld und erhielt einen versiegelten Umschlag mit den Safeschlüsseln und der eingestellten Nummernkombination sowie der Anleitung, wie sie sich verändern ließ. Worauf er die Schlosser bat, die Zahlensperre außer Betrieb zu setzen, weil er voraussah, er würde die Ziffern vergessen oder auch, wo sie notiert waren.

 Von Escandell aus erreichte er Emilia auf Anhieb. „Bobby!“ Sie schnaufte empört. „Seitdem ich mich für Public Relations ein­span­nen lasse, bin ich kaum noch zu Hause. Ein gräßlicher Job.“

 „Du hattest dich drum gerissen, den Job zu kriegen. Wird ja nicht so schlimm sein. Jedes Kind weiß, Journalisten haben ein herr­liches Leben. Morgens ein paar Artikel schreiben und dann frei für den ganzen Tag. Was ist? Hast du über das Haus nachgedacht?“

 „Bobby! Ich verstehe nicht, warum du grade den Kasten willst.“

 „Wieviel, Emy?“

 „Unter Freunden“, sagte sie. „Überleg es dir gut.“

 Hin und her ging es. Sie nannte keine Summe, als handele es sich um ein Liebhaberstück. Schließlich rückte sie mit der Anschrift eines Notars in Figueras heraus.

 „Wende dich an ihn. Ich schicke ihm gleich eine Vollmacht. Alle sonstigen Unterlagen hat er.“

 „Meine Güte!“ Er wurde ungeduldig. „Du wirst doch irgendeine Vorgabe hinsichtlich des Preises haben.“

 „Nein, Cousin. Mir wurde dieser Klotz vererbt. Keine Ahnung, was er wert ist. Mein Anwalt wird sich darum kümmern.“

 Resigniert legte er auf. Zum Henker mit Leuten, die den Wert ihres Besitzes nicht kannten.

 

Am Nachmittag holte er das nachgesandte Reisegepäck vom Bahnhof Figueras ab, packte die beiden Koffer aus und richtete sich ein. Den Schreibtisch im Arbeitszimmer stellte er unter das Westfenster, mit Blick auf die Burgruine. Er wischte ihn feucht ab und probierte verschiedene Stühle aus. Ein kräftiges Exemplar mit Armlehnen erhielt den Zuschlag. Feierlich entfernte er das Packpapier von seinem letzten Manuskript und schlug das Deckblatt um: Der Luchs, Symbol für Kraft und Schläue. These von Robert Morgan.

 Leider war die These noch Fragment, ein Abriß wie im Naturkun­debuch, der mit der Feststellung endete, die Ausrottung der Spe­zies Lynx lynx beruhe auf Vorurteilen, das Tier beeinträchtige als Kleinviehräuber bäuerliches Hegen und Pflegen. Es folgte noch der Hinweis, man versuche neuerdings mit großem Aufwand, die Tiere wieder gezielt auszusetzen, sie beispielsweise im Elsaß und in Osteuropa heimisch zu machen. Punkt.

 Irgendwie fehlte es ihm an Schwung, seine Argumente zu fokussieren. Weil er im Grund etwas zu beschreiben versuchte, was andere bereits mit weit mehr Objektivität beschrieben hatten. Vielleicht paßte die Arbeit nicht in die Reihe seiner naturkundlichen Werke, mit denen er nur deshalb so erfolgreich war, weil er keinerlei hinterfragende Distanz zwischen den Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts und seine degenerierte Umwelt legte. Im Unterschied zu Kollegen behandelte er seine Themen, als wäre mit ihnen alles in bester Ordnung. Er war zum Koch von naturkundlichem Fast food für Schulkinder geworden, leichtverdaulich, doch nicht unbedenklich. Manchmal mahnte sein Gewissen. Aber weder gab es den hippokratischen Eid für Biologen, noch konnten seine Patienten Protest anmelden. Bis auf Freund Luchs, der ihm gelegentlich zuraunte: Nicht mit mir, guter Bob!

  Nun ja, mangelnde wissenschaftliche Anerkennung in Fachkreisen war sein schwacher Punkt. Unter den Kollegen von der Königlichen Gesellschaft für Naturkunde galt er nichts. Sie ignorierten ihn. Sein dickfelliger Verleger behauptete, gerade dadurch würden die Verkaufsziffern seiner Bücher positiv beeinflußt. Er legte die mit blauer Tinte beschriebenen Blätter zusammen und betrachtete sinnend den Titel. Symbol für Kraft und Schläue – warum hatte er eine so poetische Umschreibung gewählt? Wohl, weil er sich selbst so vorgekommen war, ins Internat abgeschoben, wo er Hirn und Ellbogen gleichermaßen hatte einsetzen müssen, um sich zu behaupten, ein Luchs der Neuzeit, ausgesetzt und aus vormundschaftlicher Ferne kritisch kontrolliert. Lieber Himmel, ohne Eltern! Glücklicherweise hatte er durch seine Begabungen Kindheit und Jugend wenigstens nicht in einem staatlichen Waisenhaus abhocken müssen. Daß er es so weit bringen würde, hätte er nie gedacht. Er lachte bitter. Ohne Schönfärberei betrachtet, hatte er es zu einer geschiedenen Ehe gebracht und zu anderen gescheiterten Beziehungen. In der letz­ten Zeit zu tiefer Langeweile im Umgang mit sich selber, weil ihm, abgesehen vom hochgegriffenen Vorhaben mit der Gattung Lynx, keine wesentliche Aufgabe mehr oblag. Er hatte für niemanden zu sorgen, war für niemanden verantwortlich, darin wußte er sich eins mit dem Gegenstand seiner Dissertation. Doch selbst ein so scheuer und bindungsloser Geselle wie Freund Luchs dachte daran, eine Fa­milie zu gründen, zeitweilig wenigstens, klinkte sich damit in den Zyklus der Natur ein. Nicht er, Robert Morgan. Er klinkte sich hauptsächlich in die Verlockungen von Banken und Bars ein. Der Geldregen der letzten Jahre hatte seine Fähigkeiten verschüttet, ihn bequem und antriebslos gemacht. Keine ernsthafte Forschung nahm er mehr auf sich, keine anstrengenden Reisen. Vieles war zu spät, wie etwa mit seinen über vierzig Jahren wieder eine Art Familienleben anzufangen. Er schüttelte den Kopf.

 Eine Weile saß er mit geschlossenen Augen und dachte an Rosemarie. Dann packte er das Manuskript zusam­men, schob es in den Safe und schlug die Tür zu. Das Gehäuse bebte. Zum Teufel mit der Endfestigkeit!

 

III

 

     Zwei Tage darauf traf er bei Escandell unvermutet die Deutsche in Begleitung ihres Sohnes. Als wollte sie dessen blamable Begegnung mit Bob gleichsam ungeschehen machen, sagte sie: „Bob, darf ich Ihnen Archie vorstellen? Archie, das ist Mr. Morgan. Man steht auf, wenn man vorgestellt wird.“

 

 

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