Mein Bondage  ·  Kindheit und Jugend  ·  Gefangen in der DDR  ·  Lebensmitte  ·  Betrachtungen im Alter

                                                                                                                                                   (in Vorbereitung)

 

 

 

 

 

Selbstverschuldete Gefangennahme in der DDR

     Als ich 20 war, besuchte ich meine Verwandten in der DDR. Mein Vater hatte mich gewarnt. Dort sei ein Polizeistaat, den die Russen nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrer Besatzungszone errichtet hätten, sagte er. Ich solle dort besser mein oft freches Mundwerk halten. Sonst könnte ich mich bald in Handschellen oder gar in einer vergitterten Zelle wiederfinden. Ich grinste mir eins. Dem Alter nach befand ich mich reif für verläßlichen Stahl.

 

     Mein erster Lehrlingsurlaub wurde mit den Sommerferien meines vier Jahre jüngeren Cousins koordiniert. Die Eltern waren berufstätig. Mein Onkel, offenbar ein Funktionär, der nach eigener Aussage für den Staat arbeitete, hatte für uns Jungen einen einwöchigen Aufenthalt in einem Jugendzentrum auf einer Burg in der Nähe von Belzig, Brandenburg, organisiert. Als wir am späten Nachmittag ankamen, sah ich mich etwa einem Dutzend 14- bis 17-jähriger Jungen gegenüber. Die meisten von ihnen trugen wie ich kurze Lederhosen. Ihre blauen Hemden der staatlichen Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend ähnelten denen der Pfadfinder in Westdeutschland. Dort trug ich meist ein khakifarbenes Hemd oder, wie an dem Tag, mein Lieblings-T-Shirt mit dem Aufdruck All you need is love. Onkel Ernst hatte mir geraten, fürs Ferienlager ein Hemd ohne englischen Aufdruck anzuziehen, aber ich dachte, es könne nicht schaden, das sozialistische Einerlei ein wenig aufzumischen. Er unterhielt sich eine Weile mit Rudi, dem Gruppenleiter, einem Studenten in meinem Alter, zeigte mehrmals auf mich und gab dem Burschen etwas Geld. Dann hob er den Arm zum Gruß und fuhr davon.

     Rudi begrüßte mich mit festem Händedruck und dem sozialistischen Gruß Freundschaft! Er sagte, nach dem Abendessen würden wir Zeit zum Reden haben. In der Zwischenzeit könnten Hartmut und ich uns von den Jungs alles zeigen lassen. Aber eingeschüchtert vom Anblick so vieler militärisch wirkender blauer Hemden mit dem FDJ-Emblem einer aufgehenden, golden strahlenden Sonne ließ ich Hartmut stehen, schlenderte verwirrt davon und suchte nach einem Platz zum Ausruhen.

          Weit kam ich nicht. Zwei Jungen waren mir gefolgt. Sie erklärten mir mit Berliner Akzent, daß ich das Schloßgelände unerlaubt verlassen hätte und mit ihnen kommen müsse. Erinnerungen an die Pfadfinder mit ähnlichen Regeln wurden wach. Unhörbar brummte ich mir zu lauf Harry, lauf! – und machte mich auf der flachen Wiese fix aus dem Staub. Sie rannten hinter mir her und holten mich in weniger als einer halben Minute ein. Jetzt rächte es sich, das Training meiner schnellen Läuferbeine über der Vertiefung  philologischer Kenntnisse schon längere Zeit vernachlässigt zu haben. Meine Arme verdrehend, drückten sie mich zu Boden. Meine Güte, das alles hatte ich bei den Pfadis schon mehrmals erlebt... In dieser Neuauflage wurden allerdings nicht nur meine Hände, sondern auch die Ellbogen zusammengeschnürt. 

     Rudi war erst kurz vor dem Abendessen wieder anwesend. "Du warst bei den Pfadfindern im Westen, hab ich gehört. Konntest du dort weglaufen, ohne jemandem Bescheid zu geben?" Die Meute starrte mich an. Einige grinsten amüsiert. Mein Cousin schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. "Ich bin sicher, du konntest das dort auch nicht tun, ohne ermahnt zu werden. Wir haben die gleichen Regeln für unser Zusammensein. Ich habe deinen Onkel angerufen. Wenn du nicht bei uns bleiben willst, soll ich dich morgen früh zum Zug bringen. Bis dahin bin ich für dein Wohlergehen verantwortlich." Das Wohlergehen brachte auch mich zum Grinsen. Gerade hatten meine Bewacher mich losgebunden – wie schade! "Ich bitte um Verzeihung! Natürlich bleibe ich bei euch." "Ach", sagte Rudi, "laß dir Zeit bis zum Frühstück. Vielleicht träumst du schlecht und bist dann froh, von hier doch lieber abzuhauen." Jetzt lachten alle schallend und ich lachte mit, obwohl ich nicht wußte, worüber gelacht wurde.

     Nach dem Abendessen, von dem ich nicht erwartet hatte, es würde so reichhaltig sein, bestehend aus Kartoffelsuppe, Thüringer Bratwurst und Käsebroten, spielten wir Karten. Rudi bot mir eine Partie Schach an. Nachdem ich ihm nicht das Wasser reichen konnte und schon kurz nach der Eröffnung aufgab, verglichen wir unsere Hintergründe, das Familiäre und unsere Ausbildung. Politik, unser geteiltes Land oder auch Literatur schimmerten nur  schwach durch, als ob es sich um verbotenes Terrain handelte. Vor dem Schlafengehen, als wir vor dem verglimmenden Feuer im Halbkreis saßen und Lieder sozialistischen Inhalts gesungen wurden, mußte ich mich aufs Zuhören beschränken.

Belzig um 1650  ·  Kupferstich von Matthäus Merian

     Rudi fragte, ob ich lieber im Haus oder im Zelt schlafen wolle. "Draußen, Rudi. Gerne zusammen mit Hartmut." "Ah – er ist bereits mit einem Freund zusammen. Bei Heiko und Dirk ist noch Platz für dich." Ha, die beiden, die mich gefangengenommen hatten...? Mein Herz hüpfte vor Freude, gepaart mit Urlaubsstimmung. Vielleicht könnte ich ein Handgemenge anzetteln und solange verbissen und widerspenstig austeilen, bis sie es schaffen würden, mich mit einem Seil dauerhaft zu beruhigen.

     Nur zwei Zelte waren in der warmen Nacht aufgebaut. Heiko erklärte, daß es tagelang geregnet hatte und der Boden erst jetzt trocken genug war, um draußen zu schlafen. Jetzt sah ich es: Dirk und Heiko waren Zwillinge. Sie betrachteten mich nachdenklich. Es schien ratsam, mich sozusagen für meine Anwesenheit zu entschuldigen: "Ich hoffe, ich störe euch nicht." Die beiden grinsten breit. Dirk erwiderte, ich würde sie sicher nicht stören, und sie hofften ihrerseits, zwischen ihnen zu schlafen würde mir recht sein.

     Drei Schlafsäcke in militärischen Tarnfarben lagen auf dem Boden ausgebreitet. "Die sind ziemlich warm", erklärte Heiko. "Wir ziehen alles aus. Mach das am besten auch." Das tat ich. In meiner langen Freundschaft mit Hans-Rainer war Nacktheit nie ein Problem gewesen. Als ich in den mittleren Sack schlüpfen wollte, kniete Heiko neben mir und legte mir sanft den Arm um den Hals. "Tut mir leid, Harry. Rudi hat angeordnet, dich über Nacht zu fesseln. Weil du kein DDR-Bürger bist, außerdem minderjährig in deinem Land, und weil du weggelaufen bist, das alles." Beide lachten und Dirk fügte hinzu: "Und möglicherweise könntest du ein Spion sein, für den ein bißchen Verwahrung angeraten ist."

     Natürlich konnten die beiden nicht wissen, wie sehr Rudis Anweisung mir buchstäblich in die Hände spielte. Aber es war ein Unterschied, ob ich von mir aus darauf hinarbeitete oder ob jemand es anordnete, weil es galt, die Aufsichtspflicht zu erfüllen. Okay, in der BRD war ich noch minderjährig, doch in der DDR wohl nicht. Also sprang die Befehlskette von meinem Vater über Onkel Ernst auf Rudi, der sie bei den Zwillingen ablud, obwohl er das vielleicht gar nicht durfte. "Ich gebe euch mein Ehrenwort, hier zu bleiben und keinen Ärger zu machen."  

       Die Zwillinge sahen mich an, als wäre ich ein bißchen weltfremd. "Puh, was für ein Gelaber! Ist uns doch eine Ehre, dich hier zu haben... Harry, eine ungestörte Nachtruhe wird deinen Besuch verschönern und für uns alle unvergeßlich machen."

     Ich ignorierte die Ironie in diesen Worten. Die dünne Leine in Heikos Faust war jedenfalls ganz nach meinem Geschmack. Als wäre es für mich eine erniedrigende Schmach, die ich noch abwenden könnte, maulte ich tonlos: "Wenn ich das mit euch machen würde ..."

     "Ach, das haben wir schon mehrmals erlebt. Gefesselt zu werden, gehört irgendwie zum Ferienlager. Da muß man sich eben fügen."

     Theatralisch aufseufzend, streckte ich Heiko, der seinen Arm auf meine Schulter gelegt hatte und geduldig wartete, die Hände hin.

     "Die Pfoten auf den Rücken, Harry!" ermahnte er mich kopfschüttelnd.

     Mir ist erinnerlich, sie mußten sich erst darauf einigen, wie die Schnur zu verknoten war, damit ich mich keinesfalls befreien konnte. Dann schoben sie mich mit vereinten Kräften in den Schlafsack, banden ihn über den Schultern zu und befestigten dort die beiden Enden der Handfesseln. Sie lagen locker um die Gelenke, aber die Hände loskriegen oder raus aus dem Schlafsack konnte ich nicht mehr. "Gute Nacht! Träumen wir alle  was Schönes." Damit setzte Dirk einen Punkt unter das Geschehen. Vermutlich waren wir alle nach dem ereignisreichen Tag bald eingeschlafen.

     Jahrelang erinnerten mich nächtliche Träume wie wiederkehrende Spiegelbilder an den Beginn meiner ostdeutschen Eindrücke, als Heiko und Dirk mich kichernd überwältigten, wobei wir alle mit blauen Hemden und, durch den Traum verschönert, mit Hosen aus grünem Glanzleder bekleidet waren. Tatsächlich waren es mausgraue Spaltlederne gewesen. Die Schnur um meine Handgelenke war im Traum durch Handschellen ersetzt worden, mit denen ich inzwischen Erfahrungen gesammelt hatte. Statt FDJ-Hemden mit Organisationsemblemen, deren öffentliches Tragen in der BRD heute noch als verfassungsfeindlicher Akt bestraft werden könnte, habe ich lieber

unpolitisch-kariertes Blau im Kopf. Wie an die Hemden auf dem Bild oben.   

     Am nächsten Morgen bestätigte ich meinen Wunsch, im Camp zu bleiben und versprach, mich an alle Regeln ungestörten Zusammenlebens zu halten. Rudi hielt mir ein FDJ-Hemd hin. "Das ist Teil davon, Harry. Unser Besucherhemd ohne Parteiabzeichen." Gehorsam zog ich All you need is love aus und das blaue Baumwollhemd an, ein Produkt aus Usbekistan. Er umarmte mich. "Willkommen im Arbeiter- und Bauernparadies!" sagte er.   

     Vermutlich war mein Vater der Urheber dieser Lektion in deutsch-deutscher Koexistenz, Onkel Ernst der Organisator, Rudi der Vollstrecker und ich als zukünftiger Buchhändler ein politisch potentiell unzuverlässiges, um jeden Preis im Auge zu behaltendes Subjekt. Ich glaube, ich hatte das Beste aus meiner beschränkten Unabhängigkeit gemacht. Die Zwillinge waren entzückende, unkomplizierte Oberschüler – Tag für Tag rauften wir uns buchstäblich zusammen. Für 16-Jährige waren sie noch recht verspielt, konnten an mir nicht vorbeigehen, ohne mir einen Puff zu geben oder mir rasch mal durchs Haar zu fahren. Einzeln konnte ich jeden von ihnen vor den anderen Jungen besiegen, wobei ich meinen Status des Judoka mit blauem Gürtel für mich behielt. Die beiden fesselten mich täglich vor allen anderen und diskutierten in der Runde, wie es anzustellen sei, daß ich von allein nicht mehr vom Fleck käme. Einmal machten sie es im Hogtie so eng, daß meine Glieder nach kurzer Zeit taub wurden. "Was? Du gibst schon auf?" fragten sie mit langen Gesichtern. "Bleibt mir nichts anderes übrig! Ihr schnürt mir ja das Blut ab." Sie erkannten die falsche Anwendung des Seils und entschuldigten sich.

     Hartmut gefiel mein Umgang mit den Zwillingen offensichtlich überhaupt nicht. "Fesseln hat keinen Wert", urteilte er. "Zumindest hat es einen Wert im Kampfsport", erwiderte ich. „Bei uns jedenfalls. Bei euch sicherlich auch.

Die Feinde des Sozialismus gehören an die Leine gelegt.“ An den meisten Tagen hörte ich meinen Cousin mit einem Freund über nautische Begriffe fachsimpeln. Er wollte im nächsten Jahr die Schule verlassen und als Seemann anheuern. Abgesehen von unserer familiären Verwandtschaft hatten wir keine Gemeinsamkeiten. Es mag sein, daß ich mich nicht genug um ihn bemühte oder ihn bereits mit All you need is love vor den Kopf stieß, als sie mich in Halle an der Saale vom Interzonenzug abgeholt hatten, in den ich in Hannover eingestiegen war. In ihrer Wohnung fiel mir sofort das Fehlen von Büchern auf. So war es wohl kaum die Schuld meines Cousins, daß bei ihm niemand das Interesse an Literatur weckte. Wären wir uns öfters begegnet, hätte ich es sicherlich versucht. Bevor ich wieder abreiste, ließen seine Eltern mich wissen, sie hielten Buchhändler für keinen erstrebenswerten Beruf.

 

     Andererseits waren Heiko und Dirk für mich ein Glücksfall. Es war schon erstaunlich, wie sie versuchten, ihr Tagesgeschehen mit der bestmöglichen aller Welten in Einklang zu bringen, Sechzehnjährige, die Leibniz gelesen hatten, einen Philosophen, der anscheinend in der DDR geduldet oder sogar geschätzt wurde. Die Zwillinge zeigten sich durchaus kritisch gegenüber den russischen Besatzern und ihren Ostberliner Schergen, aber sie drückten sich immer so geschickt aus, daß es nicht als Kritik zu interpretieren war. Jedenfalls vor mir, über den sie sich vielleicht tatsächlich nicht im Klaren waren, ob ich in dieses Lager eingeschleust worden war, um für wen auch immer die Jungs auszuhorchen. Daß Onkel Ernst ihnen suspekt erschien, bezeugte ihr Schweigen, wenn über Hartmut, den zukünftigen Seemann, und seinen Vater gesprochen wurde.    

     Die letzte Nacht in ihrem Zelt war wie die erste. Auch an diesem heißen Sommerabend hatten wir uns ganz ausgezogen. Im Lager gab es eine Dusche im Freien, wo sich die Jungs ohne Badehose wuschen, einschließlich Rudi. Nacktheit schien im Sozialismus natürlicher zu sein als im kapitalistischen Westen. Die Zwillinge beschlossen, ich sollte wieder gefesselt schlafen. „Sträuben bringt nichts, Harry! Gegen uns beide hast du keine Chance.“ Die Erotik knisterte mächtig zwischen uns, aber wir berührten uns trotzdem nicht. Die Zelte waren offen, jeden Moment konnte jemand reinschauen. Dann hätten sexuelle Spielchen je nach Beobachter zu Problemen führen können. Immerhin tauschten wir Wangenküsse aus, die unsere Freundschaft besiegelten, bevor sie mich in den Schlafsack steckten. „Ab Mitternacht darfst du um Gnade bitten“, sagte Dirk. “Darauf könnt ihr lange warten.“ „Schon klar“, urteilte Heiko. “Dich trotzdem loszubinden, so schäbig sind wir nicht.“ In ihr Gelächter stimmte ich ein und mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war wohl: Wie toll  die beiden Schlingel mich durchschaut haben!

     "Wird es ein Abschied für immer sein?" fragten die Zwillinge und auch Rudi am Morgen.

     "Nein, nein. Ich komme bestimmt wieder." Das war mein fester Wunsch. Nie hätte ich gedacht, daß der nächste Besuch in Ostdeutschland einige Jahrzehnte später in einem völlig veränderten Europa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs stattfinden würde.


     "Na, hattest du nun deinen ersten Kontakt mit Handschellen?" scherzte mein Vater.

     "Ich habe noch nicht einmal welche gesehen. Apropos – könntest du nicht versuchen, mir welche zu besorgen? Ich könnte mir vorstellen, sie wären eine tolle Ergänzung zu meiner Selbstverteidigung mit Judo bei Nachtwanderungen."

     "Hör mal, Sohn! Du darfst dich fesseln, wann immer du willst. Oder beim Judo einen Freund, der sich bereit erklärt, das beim gemeinsamen Spiel zu tun. Aber du darfst es nicht mit einer völlig unbekannten Person tun."

     In dem sechsbändigen deutschen Katalog Wer liefert was? fand Papa zwei Waffenfirmen, die Handschellen anboten. Seine Anfrage nach einer Abbildung und dem Preis wurde postwendend beantwortet: Verkauf und Lieferung von Handschellen nur an Behörden.

     Ich hatte die Zwillinge gefragt, ob sie jemals Handschellen gesehen hätten. Sie verneinten, aber sie kannten jemanden, dem bei einer Festnahme Handschellen angelegt worden waren. Während er auf der Polizeiwache auf die Vernehmung wartete, hatte er verwundert das Wort Freundschaft auf dem Verbindungsstück zwischen beiden Handschellen bemerkt. Er hatte kein Interesse an von der Partei aufdringlich verordneter Freundschaft und empfand es als Verspotten seiner gefesselten Hände.    

 

© Harald Bergander · 2022

 

 

Mein Bondage  ·  Kindheit und Jugend  ·  Gefangen in der DDR  ·  Lebensmitte  ·  Betrachtungen im Alter

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